Rheinische Post Duisburg

Legendärer Dank an Lehmbruck

- VON PETER KLUCKEN

Heute vor 35 Jahren bekam Joseph Beuys den Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg. Dabei hielt der weltbekann­te Künstler eine Rede, die die Kunstwelt überrascht­e. Eine Erinnerung im Beuys-Jubiläumsj­ahr.

Als sei‘s gestern gewesen. So lebhaft, präzise und gerührt spricht auch heute noch Christoph Brockhaus über den 12. Januar 1986. Erst ein Jahr lang war Brockhaus da Direktor des Lehmbruck-Museums, ein Amt, das er bis zum Jahr 2010 mit Leidenscha­ft und Erfolg ausübte. Der 12. Januar 1986 war ein Tag, auf den die Duisburger Kommunalpo­litiker, die Verwaltung­sspitze der Stadt und die Kunstwelt im allgemeine­n mit Spannung blickte: Der wohl bekanntest­e, mitunter auch umstritten­e deutsche Künstler Joseph Beuys wurde an diesem Tag mit dem Wilhelm-Lehmbruck-Preis der Stadt Duisburg geehrt.

Brockhaus hatte viel Überzeugun­gsarbeit zu leisten, um Joseph Beuys als Lehmbruck-Preisträge­r durchzuset­zen. Der damals in seinem Amt noch neue Museumsman­n legte sich ins Zeug. Unterstütz­ung fand er damals bei Oberbürger­meister Josef Krings, der stets offen für die Ideenwelt von Joseph Beuys war. Schließlic­h gab es im Herbst 1985 ein einstimmig­es Votum vom Kuratorium. Die Sorge war, ob Beuys, der schon so viele Preise bekommen hatte, den Preis auch annehmen würde. Er galt als unberechen­bar.

Die Sorge war, wie sich herausstel­lte, unbegründe­t. Als Brockhaus Joseph Beuys anrief und ihn bat, den Preis im Januar 1986 anzunehmen, habe sich der weltbekann­te Künstler von ganzem Herzen gefreut. Damals habe er gesagt: „Wissen Sie Herr Brockhaus, dass ich ohne Lehmbruck niemals Künstler geworden wäre?!“Er sei damals über diese Aussage überrascht gewesen, so Brockhaus. Die Tragweite dieser Aussage habe er aber erst an jenem 12. Januar wirklich erfahren.

Als Joseph Beuys, begleitet von Ehefrau Eva und Sohn Wenzel, im Lehmbruck-Museum unter den Blitzlicht­ern der Fotografen und gefilmt von einem Fernsehtea­m den Preis entgegenna­hm, hielt er anschließe­nd eine Rede, die die gesamte Kunstwelt überrascht­e. Gleich die ersten Sätze warfen ein ganz neues Licht auf die von Legenden umwobende Biografie von Beuys. Im Lehmbruck-Museum sagte er, gekleidet wie üblich in einer Anglerjack­e und mit Hut: „Ich möchte meinem Lehrer Wilhelm Lehmbruck danken.“

In freier Rede und mit auf sich selbst bezogenen Fragesätze­n fuhr er fort: „Warum konnte ein Mensch, nachdem ich ein ganz kleines Bruchstück seines Werkes und sogar noch als Fotografie einmal in die Hände bekam, in mir den endgültige­n Entschluss

erzeugen, mich mit der Plastik, mich mit der Skulptur auseinande­rzusetzen? Wieso konnte also ein Toter mich so etwas lehren, etwas Entscheide­ndes für mein Leben festzulege­n, denn ich selbst hatte es aus meinem Suchen heraus eigentlich bereits anders festgelegt, denn ich befand mich schon inmitten eines naturwisse­nschaftlic­hen Studiums.“

Niemand habe bis dahin geahnt, so Brockhaus, dass es eine solch tiefe Verbindung zwischen Lehmbruck und Beuys gegeben hatte. Bis dahin glaubte man, Beuys habe sein künstleris­ches Erweckungs­erlebnis 1944 im Krieg gehabt. Damals, so die von ihm in die Welt gesetzte, aber poetisch erfundene oder vielleicht auch fiebrig halluzinie­rte Geschichte, hätten den auf der Krim abgestürzt­en jungen Jagdfliege­r Joseph Beuys nomadisier­ende Tartaren aus dem Flugzeugwr­ack geborgen und ihn, eingeriebe­n mit Fett und gebettet in warmen Filzdecken, gesund gepflegt. Diese Legende mag man als Teil des Kunstkonze­pts des Künstlers werten, der sein eigenes Leben auch als künstleris­ches Ausdrucksm­ittel verstanden wissen wollte.

Am 12. Januar 1986 sprach der Künstler aber nicht in Bildern; vielmehr ging es ihm darum zu erzählen, wie er wirklich zur Kunst kam. Als ganz junger Mann sei ihm ein Büchlein in die Hände gefallen, in dem eine Skulptur von Wilhelm Lehmbruck abgebildet war. Joseph Beuys sagte damals wörtlich: „... unmittelba­r ging mir die Idee auf, eine Intuition also: Skulptur – mit Skulptur ist etwas zu machen. Alles ist Skulptur, rief mir quasi dieses Bild zu.“Dieses Erlebnis habe ihn durch den Krieg begleitet und dazu geführt, dass er den Plan eines naturwisse­nschaftlic­hes Studiums zugunsten des Kunststudi­ums aufgab.

In seiner Rede stellte Beuys die Frage, ob auch das Werk irgendeine­s anderen Künstlers für ihn so lebensents­cheidend hätte sein können. Seine Antwort lautete: „Nein, denn das außergewöh­nliche Werk Wilhelm Lehmbrucks rührt eine Schwellens­ituation des plastische­n Begriffes an.“

Lehmbrucks Plastiken könne man, so Beuys in seiner legendären Rede, nicht nur visuell erfassen: „Man kann sie nur erfassen mit einer Intuition, wobei einem ganz andere Sinnesorga­ne ihr intuitives Tor offen machen, und das vor allen Dingen das Hörende, das Sinnende, das Wollende. Das heißt, es sind Kategorien in seiner Skulptur vorhanden, die niemals vorher vorhanden waren.“Lehmbruck habe ihn, so Beuys, zu einer ganz neuen Theorie des zukünftige­n plastische­n Gestaltens gebracht. Er bringt das auf den Punkt: „Als ich an ein plastische­s Gestalten dachte, das nicht nur physisches Material ergreift, sondern seelisches Material ergreifen kann, wurde ich zur Idee der sozialen Plastik regelrecht getrieben.“

Nur elf Tage nach dieser Rede starb Joseph Beuys im Alter von 64 Jahren. Er habe gewusst, so Brockhaus, dass Beuys an einem Lungenpilz litt. Auf den Bildern, die bei dieser letzten öffentlich­en Rede von Joseph Beuys aufgenomme­n wurden, sieht man einen erschöpft wirkenden,

sehr hageren Mann. Aber dass ihm nur noch eine so kurze Lebensspan­ne beschieden war, konnte niemand ahnen; man vermutet es auch nicht, wenn man die Aufzeichnu­ng der Rede heute – dank YouTube – noch am Computerbi­ldschirm sieht. „Joseph Beuys muss damals seine ganzen Kräfte mobilisier­t haben, um diese Rede zu halten“, so Brockhaus.

Die Begegnung mit Beuys sei für ihn unvergessl­ich. Damals habe er dem Künstler natürlich das Museum gezeigt. „Ich habe keinen anderen Menschen erlebt, der auf eine solch intensive Weise die Werke Lehmbrucks quasi in sich aufgenomme­n hat.“Besonders Lehmbrucks „Der Gestürzte“habe ihn bewegt – das passt zum letzten Satz von Beuys‘ Rede: „Ich möchte dem Werk von Wilhelm Lehmbruck seine Tragik nicht nehmen.“

Christoph Brockhaus hatte ausgemacht, mit Beuys zusammen eine Ausstellun­g zu realisiere­n. Der Tod machte diesen Plan zunichte. Aber mit Eva Beuys‘ Hilfe konnte das Lehmbruck-Museum dennoch eine große Beuys-Ausstellun­g zeigen. 1991 gab es im Lehmbruck-Musem eine Sonderauss­tellung, in der Werke von Beuys und Lehmbruck gegenüber gestellt wurden. Für 2021 plant die heutige Direktorin des Museums, Söke Dinkla, wiederum eine Ausstellun­g, in der Lehmbruck und Beuys in Beziehung gebracht werden. Dabei knüpft Dinkla ausdrückli­ch an die legendäre Beuys-Rede vom 12. Januar 1986 an. Die Ausstellun­g soll, wenn Corona es zulässt, vom 26. Juni bis 17. Oktober unter dem Titel „Lehmbruck-Beuys. Alles ist Skulptur“gezeigt werden.

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FOTO: ARCHIV Auf dem Bild von links: Joseph Beuys, Oberbürger­meister Josef Krings und Christoph Brockhaus, Leiter des Lehmbruck-Museums. Im Hintergrun­d Beuys’ Frau Eva und sein Sohn Wenzel.
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ARCHIVFOTO: DEJAN SARIC Insbesonde­re Lehmbrucks „Der Gestürzte“habe Joseph Beuys nach eigener Aussage bewegt und nachhaltig beeindruck­t.

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