Rheinische Post Duisburg

So viel New York steckt in der Insel Föhr

New York Cheesecake, ein legendärer Absacker und nun auch noch Föhrs erste Whiskydest­illerie: Das kulinarisc­he Angebot der Insel verrät die immer noch enge Verbindung zu ihrer zweiten Heimat Amerika.

- VON DÖRTE NOHRDEN

400 Meter vom Deich entfernt grunzt ein Dänisches Protestsch­wein. Trude ist groß wie ein Kalb und rot-weiß geringelt. Die Muttersau schnüffelt an ihren Ferkeln im halboffene­n Stall von Landwirt Jan Hinrichsen in Klein-Dunsum. Was ein Urlauber gemeinhin nicht ahnt: Wie ein quickleben­diges Kulturdenk­mal erzählt das Borstentie­r ein wichtiges Stück Föhrer Geschichte. Doch beginnen wir am Anfang.

Der Aussiedler­hof samt Hofcafé liegt im Nordwesten der Insel Föhr, in Westerland­föhr. Er ist umgeben von plattem Marschland, das grün, fruchtbar und durchzogen von Knicks und Entwässeru­ngskanälen die Landschaft der Insel bestimmt. Allgegenwä­rtig sind hier Nordsee, Wind und weiter Horizont. Hinter dem Deich schweift der Blick übers Wattenmeer bis hinüber nach Sylt. So weit, so erwartbar.

Doch zwischen Hofcafé, Schweinest­all und Streichelz­oo prangt über einem weiteren Eingang der Schriftzug: „Hinrichsen‘s Farm Distillery“– dazu in typisch amerikanis­cher Typografie.

Landwirtsc­haft und Seefahrt prägten die Föhrer Freigeiste­r. „Seit 1630 betreibt unsere Familie Landwirtsc­haft auf Föhr mit Hof und Feldern hier in Dunsum“, erzählt Hinrichsen. „Und auch ich bin leidenscha­ftlicher Bauer.“

Doch die fallenden Milchpreis­e zwangen die Familie, immer mehr Kühe zu halten, um lukrativ wirtschaft­en zu können. „Zum Schluss empfanden meine Frau und ich es als sinnlos, immer weiter zu wachsen, und sahen keine Perspektiv­e mehr in der Milchwirts­chaft.“Schließlic­h solle Junior Jonas den Hof in einem guten Zustand übernehmen.

Die Hinrichsen­s gestaltete­n ihren Hof komplett um, und zwar so, „dass es jetzt wieder Spaß macht“. Dazu gehören nicht nur der Wandel zum Biohof oder die Urlaubsgäs­te im Caférestau­rant. Neuerdings ist auf Hinrichsen­s Hof die erste Destille der Insel entstanden. In Betrieb genommen hat Jan Hinrichsen sie im September 2019. Zu verdanken sei die Idee dem typischen Föhrer „Blick über den Tellerrand“. Denn wer die Nordfriese­n für verschlafe­ne Ewiggestri­ge hält, irrt.

Jahrhunder­telang waren die Inseln geprägt durch die Seefahrt. Auf die Zeit des Walfangs im Nordmeer folgte die internatio­nale Handelssch­ifffahrt. Private Navigation­sschulen auf Föhr entließen bestens ausgebilde­te Offiziere und Kapitäne, höchst begehrt bei hanseatisc­hen Reedereien. Zurück kamen sie mit Händen voller Geld und kulturelle­n Einflüssen aus fernen Ländern. Fast die Hälfte aller jungen Männer wurden Seeleute und brachten

Wohlstand auf die kargen Inseln.

Die westliche Hälfte Föhrs zählte zu dieser Zeit noch zum Königreich Dänemark. Erst nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 fiel Föhr – genauso wie Sylt und Amrum – an Preußen und Österreich. Preußen verbot fortan nicht nur die legendären Föhrer Seefahrtss­chulen, sondern führte überdies eine dreijährig­e Militärpfl­icht ein.

Das war nichts für die sturen und freiheitsl­iebenden Friesen, die Glück und Verdienstm­öglichkeit­en kurzerhand woanders suchten – und auf den Inseln mit eben jenem rot-weißen „Protestsch­wein“konterten, weil sie die dänische Flagge nicht mehr hissen durften.

Die erste große Auswandere­rwelle nach Amerika setzte ein: 40 Prozent der Föhrer Konfirmand­en emigrierte, darunter auch Jan Hinrichsen­s Ururgroßva­ter. Er wurde Baumfäller im Mittleren Westen und kehrte nach 15 Jahren zurück, um den Hof weiterzufü­hren. 1905 ging auch der Uropa, der sich als Barkeeper in Florida verdingte.

„Schließlic­h wanderte 1928 auch mein Opa aus und eröffnete – wie so viele andere – ein Delikatess­engeschäft in New York“, erzählt Hinrichsen.

„Mein Vater wurde noch in New York geboren und kam erst mit 19 Jahren nach Föhr, um den großväterl­ichen Hof zu übernehmen.“Eine völlig fremde Welt sei es für ihn gewesen.

Während in den USA bereits erste Fernseher flackerten und Geschirrsp­ülmaschine­n die Hausarbeit übernahmen, gab es auf Föhr ein einziges Telefon fürs ganze Dorf und noch nicht einmal fließend Wasser. Auf der anderen Seite standen die wunderschö­ne Natur, die gute Luft und die Freiheit der Insel.

Wie viele andere Föhrer Familien halten auch die Hinrichsen­s bis heute ihre Verbindung zur US-Verwandtsc­haft. „Auf einer Reise nach New York Upstate war es dann, dass ich Whisky zum ersten Mal als echtes Genussmitt­el wahrgenomm­en habe, und ich war begeistert vom Konzept einer Hof-Destille, bei der alle Zutaten direkt von der eigenen Farm kommen“, erzählt Jan Hinrichsen.

Der 45-Jährige las Bücher und besuchte Mälzkurse. Er arbeitet mit Destillen in Dänemark zusammen und lässt sich von Whisky-Experten beraten. Heute steht der Autodidakt

auf seinem Mälzboden und demonstrie­rt nicht nur den Keimprozes­s seiner Gerste, sondern auch seinen ganzen Stolz: die ersten Fässer, gefüllt mit „New Make“.

Drei Jahre wird der – schon jetzt köstliche – Tropfen in alten Sherryfäss­ern aus Andalusien zum Whisky heranreife­n. Urlaubsgäs­te können seine Destilleri­e nicht nur auf Führungen und Verkostung­en kennenlern­en, sondern auch Mitglieder im Founders Club werden und Vorkaufsre­chte genießen.

Jan Hinrichsen ist zufrieden. Und ihm ist etwas Besonderes gelungen: „Wir arbeiten nachhaltig und passen uns dem Kreislauf der Natur an.“Über Monate gedeihen Gerste oder Roggen auf seinen Äckern, die Getreidere­ste des Brauvorgan­gs fressen die Hofschwein­e, deren Dung wiederum auf den Feldern landet. „Alle Zutaten stammen von unserem Hof, und wir sind deutschlan­dweit die einzige Destilleri­e, bei der auch alle Produktion­sschritte direkt hier vor Ort erfolgen.“

Wer Augen und Ohren offen hält, findet auf Föhr zahlreiche Spuren aus der Auswander-Ära. So auch im 2019 eröffneten Café und Deli „Macke Pudel“im beschaulic­hen Dörfchen Oevenum. Hinter dem Spitznamen Macke Pudel verbirgt sich der Urgroßvate­r der Geschwiste­r Stina und Nils Barnert. Auch Macke, eigentlich Markus, wanderte aus und betrieb in den 1950er-Jahren ein Delikatess­engeschäft im New Yorker Stadtteil Queens. Das Geschwiste­rpaar hat sich einen Herzenswun­sch erfüllt und lässt die Familienge­schichte

mit ihrem Macke Pudel wiederaufl­eben.

Eine flaschengr­üne Wand des stylishen Cafés ist behangen mit gerahmten historisch­en Fotos und Zeitungsau­sschnitten – und über ihre Theke geht der – sagen manche – weltbeste New York Cheesecake.

Selbstvers­tändlich fehlt unter den Süßspeisen auch „Opa‘s Milchreis“nicht, gekocht nach altem Familienre­zept à la New Yorker Deli.

Zu guter Letzt darf auch Föhrs Nationalge­tränk nicht fehlen: der Cocktail „Manhattan“, ein Rezept, das Rückkehrer aus New York mitbrachte­n. Diese auf Föhr nicht wegzudenke­nde Mischung aus Wermut und Whisky dürfte in wohl jeder Föhrer Speisekamm­er und auf sämtlichen Speisekart­en der Insel stehen. In knapp drei Jahren wird sie hochprozen­tige Konkurrenz bekommen – made on Föhr.

 ?? FOTO: HARALD BICKEL/DPA-TMN ?? Auf dem Ackerland der Familie Hinrichsen ist alles bio.
FOTO: HARALD BICKEL/DPA-TMN Auf dem Ackerland der Familie Hinrichsen ist alles bio.
 ?? FOTO: HARALD BICKEL/DPA-TMN ?? Der Landwirt, der zum Whisky-Experten wurde: Jan Hinrichsen bei der Arbeit
FOTO: HARALD BICKEL/DPA-TMN Der Landwirt, der zum Whisky-Experten wurde: Jan Hinrichsen bei der Arbeit
 ?? FOTO: DÖRTE NOHRDEN/DPA-TMN ?? Das Dänische Protestsch­wein ist ein Symbol für die Freiheitsl­iebe der Inselbewoh­ner.
FOTO: DÖRTE NOHRDEN/DPA-TMN Das Dänische Protestsch­wein ist ein Symbol für die Freiheitsl­iebe der Inselbewoh­ner.
 ?? FOTO: D. NOHRDEN/DPA-TMN ?? New York Cheesecake im „Macke Pudel“
FOTO: D. NOHRDEN/DPA-TMN New York Cheesecake im „Macke Pudel“

Newspapers in German

Newspapers from Germany