Das Ende der Vielfalt
Der Mund-Nasen-Schutz hat sich zum modischen Accessoire entwickelt. Die neuen Sicherheitsmasken stoppen den Trend. Vorerst.
Zu den verschärften Schutzmaßnahmen gegen das clevere Coronavirus, das uns nunmehr beinahe ein Jahr lang nervt, gehört neuerdings die Pflicht zum Tragen medizinischer Masken in Geschäften sowie in Bus und Bahn. „Chirurgischer Mundschutz“lautet die Bezeichnung für die einen, FFP2 heißen die anderen, und so sehen sie auch aus: technisch, steril, funktional, letztere sogar keilförmig, eine Art Bugklappe (vor der eigenen), ein Utensil, das irgendwie an einen aufgeklappten Kaffeefilter erinnert und seinen Träger an jemanden, der professionell Tatorte reinigt oder vielleicht zwangsgeräumte Messie-Wohnungen.
Nun ist es ja nicht so, dass wir uns im öffentlichen Raum nicht an den Mund-Nasenschutz gewöhnt hätten. Im Gegenteil. Wer angestarrt wird, als laufe er mit offener Hose durch die Gegend, weil er aus Schusseligkeit vergessen hatte, seine Maske aufzuziehen, lernt schnell. Deshalb ist einem so was höchstens mal in den Anfängen der Pandemie passiert. Aber der Wechsel vom leichten Umbinder aus Stoff der sich noch halbwegs harmonisch um die Gesichtszüge schmiegte, zum „Filtering Face Piece“, wie das klobigste unter den jetzt obligatorischen Teilen offiziell heißt, ist dann doch ein Schritt. So, als müsste man seine schicken Sneaker gegen ein Paar unförmige Gesundheitsschuhe eintauschen.
Es droht ein Rückfall in die Gesichtslosigkeit, der gleich doppelt zu Buche schlägt. Dass ein Großteil dessen, was unsere Individualität ausmacht, verdeckt wird, ließ sich leider bis heute grundsätzlich nicht ändern – aber durchaus kompensieren: mit allerlei Farben, diversen Materialien, originellen Motiven, kecken Sprüchen, unterschiedlichen Schnitten. Vorbei. OP- und FFP2-Masken sehen – jeweils – alle gleich aus. Und weder Falten noch Knick eignen sich besonders gut, um darauf ein persönliches Statement unterzubringen. Vorbei scheint es einstweilen mit der bunten Vielfalt. Und nun?
Also alles zurück auf Anfang. Als klar wird, dass Corona sich anschickt, der Gesundheit der Leute flächendeckend gründlich zu schaden, wird improvisiert – und alles um den Kopf geknotet, was zu kriegen ist. „Schnutenpulli“, „Schnüssjäckje“, „Maultäschle“heißen die Behelfe im Volksmund bald, um nur einige harmlose Umschreibungen zu nennen. Gut möglich, dass Literaturbeflissene liebevoll zur „Atemschaukel“griffen. Manches sitzt im Gesicht der Zeitgenossen, die einem damals über den Weg gelaufen sind, zunächst tatsächlich wie ein „Fratzenschlüpper“, das andere Extrem kommt einem String-Tanga nahe.
Irgendwann sind dann praktische Profi-Masken nicht nur in ausreichender Zahl erhältlich, sondern auch halbwegs erschwinglich. Die haben zunächst etwas von einem Panik-Look, was für eine Weile halbwegs Eindruck macht. Doch bald überwiegt die Langeweile der neuen Normalität.
Das Wort „Maske“stammt aus dem Arabischen. „Mashara“bedeutet soviel wie „Posse“oder „Witz“. Schon bei den Saturnalien der alten Römer, einem ausschweifenden Fest zu Ehren des Gottes Saturn, war üblich, was im Karneval später zur Regel wurde: Man setzte Masken auf – und damit soziale Unterschiede außer Kraft, verschleierte seine wahre Identität, schlüpfte in eine andere Rolle. Es heißt, dass bei den Altvorderen an solchen Tagen die Herren sogar die Sklaven bedienten. Aber wie so vieles gehen auch Orgien irgendwann zu Ende. Sie machen eine Weile wirklich Spaß, dann aber gelten wieder die Regeln des Alltags. Vermutlich dienen derart irre Ausreißer in Wahrheit einem einzigen
Zweck: die Bedeutung von alter Sitte und guter Ordnung in Erinnerung zu rufen. Beides betont nun mal gesellschaftliche Unterschiede.
Relativ kurzlebig ist deshalb auch der Hype um die vorgefertigte Maske, die vielen ziemlich zügig zu uniform vorkommt. Man möchte einfallsreicher atmen.
Wieder zeigen, was man hat.
Oder wofür man steht. Vielleicht auch ein bisschen provozieren. In jedem Fall: sich von anderen unterscheiden. Vor dem Virus sind schließlich auch nicht alle gleich. Es ist der Beginn eines gewaltigen Booms. Aus Not wird Tugend, die Maske zur Marotte. Menschen kramen lange vergessene Nähmaschinen hervor, durchforsten ihre Bestände an Stoffresten. Oder kaufen neue. Der eine aus Bio-Baumwolle, die andere aus Seide.
„Ist das jetzt too much?“lautet höchstens anfänglich noch die Frage im Angesicht des einen oder anderen selbstgefertigten Mundschutz-Exemplars. Absolut! Aber so beginnen Trends. Dann springt die Mode- und Lifestyle-Industrie auf den Zug auf, und das Ganze wird kommerzialisiert. Wie auch immer: Wer noch mit dem bläulichen Einheitsmodell herumläuft, wirkt irgendwann unter all den hippen Alternativen wie ein Corona-Streber.
Es ist wahr: Krisen machen kreativ. Kein Zufall, erweist sich Fantasie In schwierigen Situationen doch oft als überlebensnotwendig. Das gilt auch für im Bereich der Mode. Wer auf seinen Look achtet, der trägt damit gleichzeitig dazu bei, das Beste aus einer unveränderlichen Situation zu machen. Das verstärkt das Gefühl, die Kontrolle zu behalten. Verstanden hat das – lange vor Corona – etwa der frühere Bürgermeister von Wien, Helmut Zilk, dessen linke Hand durch ein Briefbombenattentat verstümmelt worden war. Er hüllte sie in der Öffentlichkeit fortan demonstrativ in ein schickes Tuch, das zu seiner Krawatte passte.
Und natürlich können Krisen durchaus lukrativ sein. Der rasche Einstieg in die Produktion von Mund-Nasen-Masken hat nicht nur dem Mönchengladbacher Modehersteller Van Laack einen massiven Wachstumsschub beschert. Im vergangenen Jahr habe sich der Umsatz des Unternehmens dank mehr als 100 Millionen verkaufter Masken und insgesamt zwölf Millionen Kittel mindestens verdoppelt, heißt es aus der Firmenspitze. Auch vielen anderen namhaften Modelabels, wie zum Beispiel Chanel, hat der Masken-Boom durchaus einträgliche Geschäfte beschert, indem sie den Mund-Nasen-Schutz kurzerhand zur modischen Verlängerung ihrer Top-Kollektionen erklärten.
Mit der Pflicht zum neuen, einheitlichen Schutzstandard hat die Gesellschaft zumindest ein Luxusproblem weniger: die Notwendigkeit, über die passende Maske zum restlichen Outfit nachzudenken. Und ja, wir werden auch die Witzbolde nicht vermissen, die unter ihrer Nase „Ich bin schöner als du denkst“, „Bla, bla, bla“oder „Wenn du das lesen kannst, bist du zu nahe“stehen haben.
Aber wer weiß? Irgendwie werden wir das Gefühl nicht los, dass es nicht allzu lange dauern wird, bis es wieder so weit ist.
Fantasie erweist sich in der Krise oft als überlebensnotwendig – das gilt auch in der Mode