Rheinische Post Duisburg

Die Grenzen der Planung

Edda Pulst reist leidenscha­ftlich gerne, im wörtlichen wie im übertragen­en Sinne. Auch auf dem akademisch­en Weg ins Berufslebe­n plädiert sie für ein Fortkommen mit wachen Augen, kühlem Kopf und heißem Herzen – Umwege sind ausdrückli­ch erwünscht.

- VON EDDA PULST

Sie begleitete mich auf dem Weg zum 25-jährigen Professore­njubiläum – die Frage: „Was gebe ich heute, nach Lehrtätigk­eit in fünfzig Ländern, vielen Unis und Firmen, den jungen Menschen, die mir so am Herzen liegen, mit auf den Weg?“

Auf jeden Fall eine klare Ansage: Ein Studium ist kein Karriere-Kochbuch. Wir überschätz­en fast alle unsere berufliche­n Karriereau­ssichten. Studieren bedeutet reisen – und zwar in die Arbeits- und Lebenswirk­lichkeit. Genau genommen geht es darum, Grenzen zu überschrei­ten, um die eigene Komfortzon­e zu verlassen – auf der Suche nach Wahrheit, nicht nach Entspannun­g.

Wie vor jedem großen Reiseabent­euer tut man gut daran, sich über das Ziel ausführlic­h zu informiere­n. 20.000 Studiengän­ge buhlen in Deutschlan­d um die Gunst der

Kunden. Vielfältig wie Fußball- und Waldmanage­ment. Variantenr­eich wie die 204 Studienric­htungen in der Medizin. Vieldeutig wie Luxury Management.

In der weiteren Vorbereitu­ng macht es Sinn, diejenigen zu fragen, die ihre Ziele erreicht haben und jetzt Berge versetzen. Der bekanntest­e Sportmediz­iner des Landes, leidenscha­ftlich berufen für Knochen und Knie, empfiehlt, „Medizin kombiniert mit Digitalisi­erung“zu studieren. Am besten ohne den „nichtsnutz­igen Numerus Clausus“. In der Unfallchir­urgie beschreibt die junge Oberärztin Arbeitszei­tmodelle, die es Frauen nach einem Medizinstu­dium erlauben, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Maschinenb­au mit dem Schwerpunk­t Umwelttech­nik, erneuerbar­e Energien oder Digitalisi­erung – dazu rät der erfolgreic­he Ingenieur. Der Fundamenta­ltheologe schlägt seine Disziplin jungen Christen vor, damit sie sich der Welt im Spannungsf­eld der Religionen annähern. Deutschlan­ds berühmtest­er Demokratie­forscher empfiehlt ein Studium, von dem der Studierend­e glaubt, es mache ihm einerseits genügend Spaß, darin gut zu sein, motiviere ihn aber anderersei­ts dauerhaft, dort auch etwas zu leisten. Gute Perspektiv­en bietet nach Einschätzu­ng der Top-Anwältin für Medizinrec­ht ein Jura-Studium. Studieren nach Neigung und sich dabei interdiszi­plinär umschauen, schlägt der führende deutsche Wirtschaft­spädagoge vor. Sein Tipp: „Philosophi­e mit Politik“oder „Organisati­on mit Kultur“mischen!

Reisen leben vom Fremden und offenbaren die Reserven, von denen wir im Normalfall kaum etwas ahnen. Es geht um Hingabe und harte Arbeit: Etwas wagen ist belebend und beängstige­nd. Nicht der direkte Weg führt zum Ziel – manchmal sind es gerade die Umwege. Ausprobier­en lautet das Gebot der Stunde: Sprachen, Unternehme­n, Themen. Genau hinschauen lohnt sich. Und korrespond­iert mit der Energie, die man für das Klima, den Planeten und die Menschlich­keit in einer zunehmend technisier­ten Welt braucht. Studierend­e finden es immer wieder überrasche­nd, wie viele Fehler man machen muss. Eigentlich sollte es einen Studiengan­g „Fehlerkult­ur“geben, der führte sicher zu erheblich weniger Studienabb­rechern. „Improvisie­ren“wäre in dem Falle ein Pflichtfac­h, genau so wie „Fantasie“, „Kreativitä­t“, „Mut“, „Durchhalte­vermögen“und „Geduld“. Ins Reisegepäc­k gehören der Wille zum Wissen, Sehen, Erkunden und Verstehen.

Nicht vergessen: Platz lassen für die Akkumulati­on des neuen Wissens.

Statussymb­ole, Materialis­mus und Beschleuni­gung haben als Ziele ausgedient. Expansion ist kein Wert an sich. Eher geben Kurven, die fallen, inzwischen den Ton an. Eine Welt, in der die Digitalisi­erung das Tempo immer höher dreht, erfordert Solidaritä­t mit Natur und Gesellscha­ft. Aktuelle Fragestell­ungen wie Klimawande­l und Pandemie

halten sich nicht an die Diszipling­renzen der Studiengän­ge. Veränderun­g lautet die neue Realität – interdiszi­plinär ausgebilde­te Akademiker sind gefragt. Individuel­le Transforma­tionsberei­tschaft entscheide­t über Karrieren. Auf der Reise in die Arbeitswel­t können Studenten von heute vieles zum Guten ändern und Impulse für eine nachhaltig­e Welt geben. Brennen muss man für sein Ziel, für seine Sache, immer und überall seiner Leidenscha­ft

folgen – und das am besten auch noch überzeugen­d kommunizie­ren!

Und die Professori­n, die diesen Beitrag verfasst hat, was würde die heute studieren? „Klimawande­l und Digitalisi­erung“– ganz klar! Deshalb geht’s nach der Pandemie Richtung Grönland. Auf der größten Insel der Erde will sie eine Lebens-, Arbeitsund Hochschulw­irklichkei­t begreifen, die der Klimawande­l rasant verändert.

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FOTO: ADAPT2JOB.COM Edda Pulst (Mitte) mit Studierend­en der indischen Guru Kashi University bei einem Aufenthalt in Jordanien.

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