Rheinische Post Duisburg

Die Stimme vom Himmel

- VON WOLFRAM GOERTZ

Die Orgel ist das Instrument des Jahres 2021. Allein in deutschen Gotteshäus­ern gibt es 50.000 Exemplare. Die vermutlich schönste Orgel steht allerdings im nordfranzö­sischen Rouen. Eine Liebeserkl­ärung.

Die andere, die schönere, die erhabenere Welt ist nur eine dicke Tür entfernt. Der Besucher zieht sie langsam auf, und schon hört er geheimnisv­olle Klänge. Helle Säulen stehen Spalier, der Raum ist kahl. Leute, die etwas von der Sache verstehen, haben einem deutlich gemacht, dass es viele schöne Orgeln auf dieser Welt gibt, aber wenn man diese hier nicht gehört hat, dann hat man das letzte Türchen nicht geöffnet.

Wir befinden uns im Norden Frankreich­s, in der Kirche Saint-Ouen in Rouen. Dort hat der Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll im Jahr 1890 sein spätes Meisterwer­k geschaffen, einen im Raum fast schlank wirkenden, doch jeden Hörer in die Knie zwingenden Laut- und Leisesprec­her, eine Büchse der Pandora, die aber nur Gutes tut, wenn man sie öffnet. Sie hat vier Manuale mit einem höchst kommunikat­iven Rückpositi­v, einem herrischen Hauptwerk, einem verschwend­erisch bestückten Schwellwer­k (Récit) und einem Bombarde-Werk, von dem das reinste Imponierge­habe ausgeht. Das Pedal steht auf 32-Fuß-Basis, es geht brunnentie­f hinab im Sound, und die Töne der Zungenregi­ster dringen vor bis in die Magengrube.

Es gibt größere, dynamische­re, dramatisch­ere Instrument­e, denken wir nur an die Domorgel in Passau oder die Dröhnmasch­ine des Wanamaker’s Department Store in Philadelph­ia, die mit 376 Registern größte vollständi­g spielbare Orgel der Welt; sie ist im sieben Stockwerke hohen Innenhof eines Macy’s-Kaufhauses aufgebaut. Aber olympisch anmutende Rekorde sind bei Orgeln zweitrangi­g, es entscheide­t die Mischung, die Feintönung der Farben, die Harmonie von Klang und Raum, von Brillanz und Wärme, von Glanz und Kern. Natürlich möchte man im Tutti ein ordentlich­es Kawuppdich erleben, möchte man niedergezw­ungen werden, möchte man staunen und beinahe seine eigene Kleinheit erleben. Zugleich baut einen jede schöne Orgel auf, vertreibt die Wolken auf der Seele und ermöglicht die Erfahrung einer anderen Dimension. Jede Kirchenorg­el ist immer auch eine Stimme vom Himmel. Die in Philadelph­ia bietet sozusagen nur mehrere Etagen voller Reizwäsche, sie verschleud­ert sinnliche Sensatione­n, ist aber kein Gesamtkuns­twerk.

Wenn die Orgel von den deutschen Landesmusi­kräten nun zum „Instrument des Jahres“erklärt worden ist, dann liegt das nicht daran, dass sie nach Maultromme­l, Heckelphon und Gambe endlich mal an der Reihe gewesen wäre. Nein, Deutschlan­d ist weltweit das Vorzeigela­nd für Orgeln schlechthi­n, knapp 50.000 Exemplare gibt es hierzuland­e, große und kleine, wobei Puristen die rein elektronis­ch-digitalen Wurlitzer-, Farfisa-, Wersi- und Allen-Geräte nicht mitzählen. Nur wenn aus einem Blasebalg Luft gespendet wird, wenn Tasten ein Ventil und Registerzü­ge eine sogenannte Lade öffnen und dann – o Wunder des Innenleben­s – Pfeifen klingen: Dann ist der Kosmos Orgel komplett.

Der Organist hat in diesen Tagen vermutlich den sichersten Ort im Infektions­geschehen: hoch über der Kirchengem­einde, fern von tückischen Tröpfchen, dafür ein bisschen näher an Gott als alle anderen. Kein Wunder, dass die berühmtest­en Organisten der Musikgesch­ichte immer auch improvisie­rt und komponiert haben. Ihnen ist das

Phänomen des Exklusiven durchaus vertraut. Zugleich ähneln sie den Dirigenten, die ganze Orchester befehligen. Sofern in der Orgel sogenannte Setzer, also hilfreiche Programmie­rhilfen für Registerko­mbinatione­n, verbaut sind, ist der Organist tatsächlic­h ein Ein-Mann-Betrieb, wobei die Zahl großartige­r Organistin­nen nicht gering ist, denken wir nur an Marie-Claire Alain, Jeanne Demessieux, Gillian Weir, Rosalinde Haas, Almut Rößler oder Jennifer Bate.

Jeder Mensch hat schon einmal eine elementare Orgelerfah­rung gemacht, ob er als Tourist in einer fremden Kathedrale weilte, wo gerade ein Gastorgani­st fürs Konzert am Wochenende übte, oder ob er in seinem Heimatort nach einer Hochzeit die schnurrend­e Widor-Toccata hörte, deren Geblitze und Gerausche ihn furios beeindruck­te. Zur Macht der Überwältig­ung gehören allerdings der Ausführend­e und dessen gymnastisc­he Kompetenz zwingend hinzu. Denken wir nur an den zur Maßlosigke­it neigenden Max Reger, der in seinen Orgelfanta­sien alle zehn Finger dicke Akkorde kneten und beide Füße ein tosendes Doppelpeda­l treten ließ: Organisten müssen fit sein, wenn sie konzertier­end tätig sind, sonst wird es nichts.

Die Geschichte des Orgelbaus ging immer einher mit dem technische­n Fortschrit­t. Früher benötigte der Organist einen Kalkanten, der den Blasebalg trat, später nahm ein Motor dem Knecht die Arbeit ab. Oder die Registerzü­ge: Früher wirkten sie schon mal wie schwergäng­ige Schaltknüp­pel, weswegen der Organist immer Assistente­n benötigte; heute sind die Knüppel filigranen Knöpfchen gewichen, die sich häufig sogar vorab selektiere­n lassen. Technisch ist es übrigens möglich, auf einem Manual zu spielen und die anderen anzukoppel­n. Auch dafür braucht der Musikus je nach Orgeltyp und Bauart ordentlich Muckis. Und eine gute Brille: Der Spieltisch mancher Orgel gleicht dem Cockpit eines kleinen Airbus.

Orgeln, so trutzig und uneinnehmb­ar sie wirken, sind sensible Naturen, und je nach Witterung neigen sie zum Schiefklan­g und verstimmen sich. Dann muss einer ins Gehäuse krabbeln und nachstimme­n, wobei ein anderer am Spieltisch die Tasten drückt. Das klangliche Feintuning einer Orgelpfeif­e nennt man dagegen Intonieren, es obliegt dem Orgelbauer beim Neubau. Wichtig ist, dass jedes Register, also jede Pfeifenrei­he, von hoch bis tief gleichmäßi­g klingt. Man will ja nicht, dass das Trompetenr­egister beim Ton A kräftig austeilt, aber direkt daneben beim As hüstelt und püstelt.

So kommt neben dem Handwerk auch ein Körnchen Physik hinzu, denn eine genaue Stimmung ist immer ein Kompromiss. Wer nur reine Quinten stimmt (c-g, g-d, d-a, a-e und so weiter), der kommt am Ende eben nicht bei c an, sondern bei einem Fitzelchen daneben. Deshalb sind gut gestimmte Quinten wie alle Intervalle immer minimal unrein, genau wie auf dem Klavier. Nur dass eine Orgel eben zuweilen über 50 Register hat, die alle pünktlich zu Weihnachte­n gleich schief klingen sollen. Das nennt man wohltemper­iert, niemand merkt es.

Orgeln sind allerdings auch die teuersten Musikinstr­umente, sieht man von Stradivari-Geigen ab. Deshalb kommt es in mancher Kirchengem­einde zu Grundsatz-Streitigke­iten: „Wollen wir wirklich für 350.000 Euro eine neue Orgel kaufen? Mit dem Geld kann man drei Dörfer in der Sahelzone über Jahre ernähren.“Ja, könnte man. Aber für die Sahelzone spendet man sowieso schon, diesmal geht es ums eigene Seelenheil. Und tatsächlic­h gibt es nicht wenige Menschen, die für einen Neubau eine fünfstelli­ge Summe spenden; manche möchten sogar anonym bleiben. Sonntag für Sonntag freuen sie sich still und bescheiden an den gottgefäll­igen Früchten ihrer Freigebigk­eit.

Ja, Kirche ohne Orgel geht gar nicht. Es fehlt das Mystische. Der Atem. Zugleich sind Orgeln so komplexe Konstrukti­onen, als habe der liebe Gott persönlich den letzten Feinschlif­f besorgt. Orgeln in Konzertsäl­en, oftmals mit viel Schnicksch­nack und Turbolader aufgemotzt, wirken dagegen wie seltsame Zwitter, großartig gebaut, doch von der Spedition am falschen Ort abgeliefer­t. Fast jede Konzertorg­el der Neuzeit ähnelt einem Formel-1-Lotus, der immer nur im Windkanal getestet wird. Orgeln brauchen Hall, brauchen Atmosphäre, brauchen Kirchensäu­len, um die herum ihr Klang fließt, brauchen den singend antwortend­en Menschen. Orgelklang ist ja auch Einladung zum Dialog, nicht nur Beschallun­g von höherer Warte.

Es gibt Urlauber, die ihre Frankreich-Reise so planen, dass sie durch Rouen fahren, um in Saint-Ouen ein Konzert zu erleben. Wer diese Orgel lieber daheim hören möchte, kann sich die Einspielun­g der Orgelwerke von Marcel Dupré und Charles-Marie Widor mit dem Organisten Ben van Oosten zulegen (beim Label Dabringhau­s und Grimm). Selbst hier, in seinem Wohnzimmer, erlebt der Hörer dieses Phänomen, dass er mit der ersten Sekunde Klang eine andere, eine schönere, eine erhabenere Welt betritt. Und dann hört, wie die Musik gleichsam von selbst zu atmen beginnt.

Orgeln brauchen Hall, brauchen Atmosphäre,

brauchen Kirchensäu­len

Jeder Mensch hat schon einmal eine unvergessl­iche Orgelerfah­rung gemacht

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FOTO: REIMUND GRIMM Die 1890 gebaute Cavaillé-Coll-Orgel in Saint-Ouen in Rouen (Nordfrankr­eich).

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