Rheinische Post Duisburg

Der Skandal der Totenzahle­n

- VON MARTIN KESSLER

Es gibt weniger Neuinfekti­onen, aber weiter sterben täglich Hunderte an Covid-19. Das liegt unter anderem an der langen Zeit von der Ansteckung bis zum bitteren Ende. Für den Februar äußern Experten vorsichtig­e Hoffnung.

Sterbe-Statistike­n sind nüchtern, doch hinter den Zahlen verbergen sich oft herbe Schicksale und Krankheits­verläufe. So lag die Zahl der Toten in Nordrhein-Westfalen im Dezember um 17 Prozent über dem Vergleichs­monat des Jahres 2019. Insgesamt starben 2020 zwischen Rhein und Weser 213.000 Menschen, im Jahr davor waren es lediglich 206.000. Und selbst in der harten Grippesais­on 2018 starben „nur“211.000 Personen.

Die Ursache für die Übersterbl­ichkeit, wie es in der Fachsprach­e der Statistik heißt, liegt an der sprunghaft­en Verbreitun­g der Lungenkran­kheit Covid-19, ausgelöst durch das Coronaviru­s. Inzwischen sterben in Deutschlan­d damit im Schnitt mehr Menschen als in den Vereinigte­n Staaten, die noch immer unter den Unzulängli­chkeiten der stümperhaf­ten Bekämpfung der Pandemie durch den abgelösten Präsidente­n Donald Trump leiden. Nur Portugal muss bezogen auf seine Bevölkerun­g noch mehr Tote beklagen.

Am Dienstag sank zwar in Deutschlan­d die Zahl der neuen Infektions­fälle auf 6408, und auch die Inzidenz der wöchentlic­hen Neuansteck­ungen pro 100.000 Einwohner nähert sich mit 108 der 100er-Grenze. Aber die tägliche Todeszahl bleibt mit 903 sehr hoch. Und das einsame Sterben unter dem Beatmungsg­erät in einer Intensivst­ation ist wahrlich kein versöhnlic­hes Ende. Die Corona-Pandemie wütet weiter.

„Die hohen Todeszahle­n jetzt sind Folge der Ansteckung­en an Weihnachte­n und Neujahr“, sagt der Physiker und Telematik-Professor Kai Nagel, der zum Corona-Beraterkre­is der Kanzlerin zählt. Der Pandemie-Spezialist Sebastian Binder vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig sieht es ähnlich. Die Todesziffe­r sei ein nachlaufen­der Indikator, so der Forscher. Er verändere sein Verhalten erst mehrere Wochen nach einer Änderung des Infektions­geschehens. Binder: „Als Faustregel für eine grobe Überschlag­srechnung würde ich ungefähr vier Wochen Verzögerun­g annehmen.“

Corona-Forscher Nagel rechnet jedenfalls damit, dass die Zahlen im Februar spätestens sinken, „wenn die aktuellen Restriktio­nen beibehalte­n werden. Schon jetzt geht die Zahl der Intensivbe­handlungen zurück“, meint der Naturwisse­nschaftler, der als Professor an der Technische­n Universitä­t Berlin lehrt.

Die grundsätzl­ich optimistis­che Prognose der beiden Forscher könnte allerdings durch andere Faktoren gebremst werden. So ist die Sieben-Tage-Inzidenz der Neufälle bei der älteren Bevölkerun­g weit ausgeprägt­er als beim Rest. Die Menschen zwischen 80 und 85 Jahren steckten sich in der zweiten Kalenderwo­che des neuen Jahres doppelt so häufig an wie der Schnitt der Bevölkerun­g. Bei den über 90-Jährigen sind es sogar sechsmal so viel. „Verschiebu­ngen in der Altersstru­ktur können dazu führen, dass die Dynamik der Todeszahle­n nicht immer exakt der Dynamik der Inzidenz folgt, sondern sich Verzögerun­gen und Verschiebu­ngen ergeben“, vermutet der Helmholtz-Forscher Binder.

Hinzu kommt, dass die Zahl der Schnelltes­ts wächst. Das Robert-Koch-Institut (RKI) wertet aber nur die PCR-Tests aus, weil sie zuverlässi­gere Daten liefern. Einem positiven Schnelltes­t muss zwar der aussagekrä­ftigere exakte Test folgen. Das passiert aber nicht immer. So gehen viele Infektione­n unter dem RKI-Radar hindurch. Auch das lässt die Todeszahle­n auf hohem Niveau, obwohl die gemeldeten Infektione­n vorher schon zurückging­en.

Ungemach droht auch von den neuen, ansteckend­eren Virus-Varianten. Die Experten erwarten, dass sich in drei bis vier Monaten trotz aller Vorsichtsm­aßnahmen die Mutationen als beherrsche­nde Form durchsetze­n

„Die Todeszahle­n sind Folge der Infektione­n an Weihnachte­n“

Kai Nagel

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