Sergio Mattarella ist ein Garant im Chaos
Der italienische Staatspräsident führt das Land durch die Regierungskrise – nicht zum ersten Mal.
ROM Es ist in der italienischen Politik wie bei Raufbolden. Sie stänkern und streiten. Am Ende hilft alles nichts, das Familienoberhaupt muss die Krise beenden. Im römischen Politchaos kommt diese Rolle Staatspräsident Sergio Mattarella zu. Am Dienstag bekam der 79-Jährige Besuch von Ministerpräsident Giuseppe Conte, der zwar in der vergangenen Woche vom Parlament das Vertrauen ausgesprochen bekam. Die Regierungsmehrheit im Senat ist aber so knapp, dass vernünftiges Regieren nicht mehr möglich ist. Die Regierung Conte, die 66. der Nachkriegszeit, wäre höchstwahrscheinlich am Mittwoch bei einer Abstimmung über die Justizpolitik gestürzt. Der Regierungschef kam dem zuvor und reichte bei Mattarella seinen Rücktritt ein. Nun ist das Staatsoberhaupt gefragt.
Italiens Staatspräsident kommt bei den instabilen Verhältnissen in Rom eine hervorgehobene Rolle zu, er nominiert Premier und Kabinett. Mattarella hat für Mittwoch und Donnerstag Beratungen mit allen politischen Parteien angesetzt. Anschließend muss der Sizilianer entscheiden, ob Conte nach 2018 und 2019 ein drittes Mandat zur Regierungsbildung bekommt. Dazu hat Mattarella angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse im Senat allerdings die Bildung einer neuen Fraktion von Unterstützern der Regierung zur Bedingung gemacht, eine Operation, die bislang fehlschlug und Conte zum Rücktritt zwang. Ausgelöst wurde die Krise Mitte Januar von Ex-Premier Matteo Renzi und seiner Partei Italia Viva, offiziell waren Streitigkeiten über die Verteilung der Gelder aus dem EU-Nothilfefonds der Grund.
Findet sich keine Mehrheit für Conte, kann der Staatspräsident einen anderen Kandidaten mit der Regierungsbildung beauftragen. Einigen sich die Parteien nicht, bleibt Mattarella nur der Weg zu Neuwahlen, aus denen mit großer Wahrscheinlichkeit ein Rechtsbündnis um Ex-Innenminister Matteo Salvini als Sieger hervorgehen würde.
Politik ist eine ernste Sache für Mattarella, leichtfertige Entscheidungen sind seine Sache nicht. Er ging nach der Ermordung seines
Bruders Piersanti 1980 durch die sizilianische Mafia in die Politik. Der zum linken Flügel der Christdemokraten zählende Politiker, dessen Ehefrau 2012 verstarb, hat drei Kinder und kümmerte sich auch um die Kinder seines ermordeten Bruders.
Mattarella war bis 1990 nicht nur fünfmal Minister, sondern von 2011 an auch Verfassungsrichter und dabei insbesondere mit Parlamentsund Wahlrecht befasst. Wenige kennen die Untiefen des römischen Parlamentarismus besser als er. EU-Treue und Stabilität, zumal während der Pandemie, gehören zu seinem politischen Credo, deshalb sind Neuwahlen Mattarellas letzte Option. Sie kämen nur dann infrage, wenn die Raufbolde sich auch nach ernsten Ermahnungen immer noch nicht einigen würden. Den Parteien der bisher amtierenden Links-Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung,
Sozialdemokraten, der Linkspartei Leu sowie Italia Viva ist das allerdings zuzutrauen.
Sein staatsmännisches Meisterstück lieferte Mattarella im Sommer 2019. Damals hatte der laut Umfragen triumphierende Lega-Chef Salvini „die ganze Macht“gefordert und den Bruch der ersten Regierung unter Conte provoziert. Mattarella ließ zu, dass sich die Fünf-Sterne-Bewegung vom Koalitionspartner Lega lossagte und mit den Sozialdemokraten eine neue, erst jetzt beendete Allianz bildete, ohne Neuwahlen. Den politischen Preis dafür bezahlte die Grillo-Bewegung mit ihrem Schwenk von rechts nach links. Die am stärksten im Parlament vertretene Partei blieb zwar an der Macht, verliert aber immer mehr an Zustimmung. Der Staatspräsident hatte institutionelles Geschick gezeigt, Kontinuität unter Conte wurde möglich. Mutig war seine Entscheidung 2018: Nach der Wahl hatte Mattarella der Populisten-Regierung aus Sternen und Lega den Segen gegeben, allerdings die Nominierung eines Euroskeptikers als Finanzminister per Veto verhindert.
Reserviertheit und staatsmännisches Auftreten des Präsidenten sind Legende in Rom. Sein Beiname „Il muto“, der Stumme, wird inzwischen nicht mehr als Kritik, sondern angesichts der vielen laut hervorgebrachten Einzel- und Parteiinteressen als Lob verstanden.