Nach dem Monsun
Große Rockoper: Bill Kaulitz, der Sänger von Tokio Hotel, blickt auf sein Leben zurück. Er erzählt vom Aufstieg, klagt über Einsamkeit in L.A. und dankt Heidi Klum. Das Buch entwaffnet mit Selbstironie und unterhält mit Star-Allüren.
DÜSSELDORF Im Jahr 2008 war das, da wollte Bill Kaulitz bloß noch aufs Gas drücken und weg. Er stieg in seinen neuen Audi Q7 V12, ein fast 200.000 Euro teures Auto, auf das er wegen seiner vielen Sonderwünsche lange hatte warten müssen. Weiß mit schwarzen Felgen, Klavierlack-Konsole. Er fuhr in diesem Geschoss auf die A24 Richtung Berlin, er hörte laut Musik und drückte die Nadel auf 230 Stundenkilometer. Nieselregen, vereister Schnee, mittlere Leitplanke. Der Wagen überschlug sich, Flammen und Qualm, und als er wieder stand, spielte die Bang-&-Olufsen-Anlage ungerührt weiter Annie Lennox: „This little bird’s fallen out of that nest now.“
Bill Kaulitz hat seine Autobiografie geschrieben, und natürlich ist „Career Suicide“die ganz große Rockoper geworden. Der Sänger der Band Tokio Hotel erzählt von seiner Lebensreise von Loitsche nach L. A., aus dem brandenburgischen Dorf hinter den Kalisalz-Bergen nach Kalifornien. Es ist eine Fahrt durch den Monsun, ein Flug übers Kuckucksnest, Stairway to Heaven und Highway to Hell, und standesgemäß beginnt das Buch wie ein Film noir: „Wie dunkle Geister zieht der Rauch über die Häuser Downtowns und wirft seine Schatten über die Stadt.“
Natürlich hat man solche Geschichten schon oft gelesen, solche Bühnen-Bildungsromane und Ekstase-Epen: Einer ist erst unverstanden, erobert später die Welt, dann fliegt er ein bisschen zu nah an die Sonne, verbrennt sich und blickt schließlich angemessen reuevoll, aber mit Champagner-Glas in der Hand, zurück. Man hört so was immer wieder gerne, und Kaulitz variiert den Stoff ziemlich gut. Außerdem spricht der 31-Jährige wie ein Freund zum Leser. Wie einer, der heimgekehrt ist und nun als Korrespondent vom Land hinter den Spiegeln erzählt. Vollkontakt mit der Sehnsucht, Feier der traumhaften Unmittelbarkeit: „Also, alter Freund. Here we go!“
Am schönsten sind die Erinnerungen an früher, ans Leben mit Zwillingsbruder Tom und der Mutter in der heimatlichen Enge. Wie er die Musik entdeckte, sich zu Nena aus der Armut und dem Hader wegträumte. Großer Satz, der ja allgemein für das Aufwachsen in der Provinz gilt: „Im Kopf tanzte ich zu Nenas ,Satellitenstadt’, doch in Wirklichkeit steckte ich hinter der Bushaltestelle fest.“Bill wurde in der Schule gehänselt und gequält. Er sah anders aus, zog sich anders an: „Es war nicht einfach für uns, jung zu sein.“Und als er zum Tanzkurs ging und man dort verlangte, jeder möge in schwarzen Schuhen auflaufen, malte er seine weißen Reeboks „mit einem Edding in stundenlanger Arbeit schwarz an“.
Dann bewarb er sich bei der Sendung „Star Search“. Er hatte kein Geld für ein Passfoto und nahm einfach eins von Tom. Bill gewann zwar nicht, und doch wurden Produzenten auf ihn aufmerksam. Da ging es los mit Tokio Hotel. Kaulitz’ Sprache wird nun so herrlich abgehoben, wie sie nur bei Leuten klingt, die big in America sind: „Wir waren jeden Tag voll durchgeschedult“. Und, besonders schön: „Clearly hatten wir niemanden, der uns finanziell beriet.“
Sympathisch: Auch im Rückblick wirkt es, als staune Kaulitz immer noch, wie schnell alles ging. „Durch den Monsun“erreichte 2005 aus dem Stand Platz eins. „Wir fluteten Deutschland“, schreibt er. Plötzlich saß er als „Teen Sensation“in seinem neuen Loft in Hamburg: „Ich fühlte mich wie Richie Rich“, es war wie in „Beverly Hills 90210“. Die Abschlussprüfung an der Internetschule versüßte er sich mit einer Rolex, die er sich vom Juwelier an die Schulbank liefern ließ. Sie ließen es krachen, und wenn backstage keine Lieblings-Cornflakes und Milchbrötchen mit Rosinen da waren, wurde es eng für die Angestellten. „Maßlos waren wir“, schreibt Kaulitz. Und mit dieser entwaffnenden Selbstironie, die hier öfter mal durch die Zeilen leuchtet: „Mit showreifen
Kindern ist nicht zu spaßen.“
Natürlich muss Ikarus für seinen Ausflug ins Licht büßen, und der altersweise Kaulitz schreibt auch dazu ein paar Sätze, die schon Rita Hayworth gedacht haben mag, aber nie sagte: „Die Wahrheit war, OneNight-Stands machen mich nur trauriger und einsamer.“Und: „Für so viele Zimmer Zeug zu kaufen, kostet nicht nur ein Vermögen, es kostet auch Zeit.“Oder: „Wenn alle Kameras und Scheinwerfer aus sind, alle Fans nach Hause fahren und niemand mehr hinsieht, bin ich immer noch Bill Kaulitz.“Einmal steht Kaulitz bei einer Preisverleihung neben Michael Jackson. Aber auch darauf blickt er inzwischen abgeklärt zurück: „Damals das fetteste Ding. Heute? Michael tot, und an den Auftritt erinnert sich kein Schwein.“
Sie hätten zwischenzeitlich die Kontrolle über ihr Leben verloren, schreibt Kaulitz über sich und seinen Bruder. Als „schwer verwöhnt und emotional unterkühlt“bezeichnet er sich. Tatsächlich gibt es Stellen in diesem Buch, da spürt man, dass ihm die „ganze Welt ein Feind“geworden ist. Frauen werden als „Chicks“und „Hühner“bezeichnet, eine Freundin als „Belastung aus der Heimat“abgetan, eine Tänzerin gar mit einer Bulldogge verglichen: „Da hat nichts geschwabbelt.“Würde da echt ein Freund reden, wie Kaulitz zwischendurch mit eingestreuten Wendungen wie „Versteh mich nicht falsch“vorgibt, man unterbräche ihn jetzt und fragte: Was ist los mit dir?
Am Ende kehrt nach rastlosen Jahren auf der Flucht vor Stalkern, Geldgeiern, Hatern, „Smart-Ass-Anwälten“und der Yellow Press ein bisschen Ruhe ein. Kaulitz sitzt in einem Haus „von meinem absoluten Lieblingsarchitekten Frank Lloyd Wright“in den Hollywood Hills. Er fühlt sich noch immer einsam, sehr sogar, aber es ist schon besser, seit sein Bruder mit Heidi Klum zusammen ist: „Mit Heidi kam die Leichtigkeit in unser Leben.“
Zum Schluss eine Danksagung. „Danke, Mama“, steht da. Und: „Tom, Du bist Ich und Ich bin Du! Ohne dich könnte ich nie sein.“Es kommt einem das alte Lied wieder in den Sinn: „Und wenn ich nicht mehr kann / Denk ich daran / Irgendwann laufen wir zusammen / Durch den Monsun / Dann wird alles gut.“