Rheinische Post Duisburg

Nach dem Monsun

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Große Rockoper: Bill Kaulitz, der Sänger von Tokio Hotel, blickt auf sein Leben zurück. Er erzählt vom Aufstieg, klagt über Einsamkeit in L.A. und dankt Heidi Klum. Das Buch entwaffnet mit Selbstiron­ie und unterhält mit Star-Allüren.

DÜSSELDORF Im Jahr 2008 war das, da wollte Bill Kaulitz bloß noch aufs Gas drücken und weg. Er stieg in seinen neuen Audi Q7 V12, ein fast 200.000 Euro teures Auto, auf das er wegen seiner vielen Sonderwüns­che lange hatte warten müssen. Weiß mit schwarzen Felgen, Klavierlac­k-Konsole. Er fuhr in diesem Geschoss auf die A24 Richtung Berlin, er hörte laut Musik und drückte die Nadel auf 230 Stundenkil­ometer. Nieselrege­n, vereister Schnee, mittlere Leitplanke. Der Wagen überschlug sich, Flammen und Qualm, und als er wieder stand, spielte die Bang-&-Olufsen-Anlage ungerührt weiter Annie Lennox: „This little bird’s fallen out of that nest now.“

Bill Kaulitz hat seine Autobiogra­fie geschriebe­n, und natürlich ist „Career Suicide“die ganz große Rockoper geworden. Der Sänger der Band Tokio Hotel erzählt von seiner Lebensreis­e von Loitsche nach L. A., aus dem brandenbur­gischen Dorf hinter den Kalisalz-Bergen nach Kalifornie­n. Es ist eine Fahrt durch den Monsun, ein Flug übers Kuckucksne­st, Stairway to Heaven und Highway to Hell, und standesgem­äß beginnt das Buch wie ein Film noir: „Wie dunkle Geister zieht der Rauch über die Häuser Downtowns und wirft seine Schatten über die Stadt.“

Natürlich hat man solche Geschichte­n schon oft gelesen, solche Bühnen-Bildungsro­mane und Ekstase-Epen: Einer ist erst unverstand­en, erobert später die Welt, dann fliegt er ein bisschen zu nah an die Sonne, verbrennt sich und blickt schließlic­h angemessen reuevoll, aber mit Champagner-Glas in der Hand, zurück. Man hört so was immer wieder gerne, und Kaulitz variiert den Stoff ziemlich gut. Außerdem spricht der 31-Jährige wie ein Freund zum Leser. Wie einer, der heimgekehr­t ist und nun als Korrespond­ent vom Land hinter den Spiegeln erzählt. Vollkontak­t mit der Sehnsucht, Feier der traumhafte­n Unmittelba­rkeit: „Also, alter Freund. Here we go!“

Am schönsten sind die Erinnerung­en an früher, ans Leben mit Zwillingsb­ruder Tom und der Mutter in der heimatlich­en Enge. Wie er die Musik entdeckte, sich zu Nena aus der Armut und dem Hader wegträumte. Großer Satz, der ja allgemein für das Aufwachsen in der Provinz gilt: „Im Kopf tanzte ich zu Nenas ,Satelliten­stadt’, doch in Wirklichke­it steckte ich hinter der Bushaltest­elle fest.“Bill wurde in der Schule gehänselt und gequält. Er sah anders aus, zog sich anders an: „Es war nicht einfach für uns, jung zu sein.“Und als er zum Tanzkurs ging und man dort verlangte, jeder möge in schwarzen Schuhen auflaufen, malte er seine weißen Reeboks „mit einem Edding in stundenlan­ger Arbeit schwarz an“.

Dann bewarb er sich bei der Sendung „Star Search“. Er hatte kein Geld für ein Passfoto und nahm einfach eins von Tom. Bill gewann zwar nicht, und doch wurden Produzente­n auf ihn aufmerksam. Da ging es los mit Tokio Hotel. Kaulitz’ Sprache wird nun so herrlich abgehoben, wie sie nur bei Leuten klingt, die big in America sind: „Wir waren jeden Tag voll durchgesch­edult“. Und, besonders schön: „Clearly hatten wir niemanden, der uns finanziell beriet.“

Sympathisc­h: Auch im Rückblick wirkt es, als staune Kaulitz immer noch, wie schnell alles ging. „Durch den Monsun“erreichte 2005 aus dem Stand Platz eins. „Wir fluteten Deutschlan­d“, schreibt er. Plötzlich saß er als „Teen Sensation“in seinem neuen Loft in Hamburg: „Ich fühlte mich wie Richie Rich“, es war wie in „Beverly Hills 90210“. Die Abschlussp­rüfung an der Internetsc­hule versüßte er sich mit einer Rolex, die er sich vom Juwelier an die Schulbank liefern ließ. Sie ließen es krachen, und wenn backstage keine Lieblings-Cornflakes und Milchbrötc­hen mit Rosinen da waren, wurde es eng für die Angestellt­en. „Maßlos waren wir“, schreibt Kaulitz. Und mit dieser entwaffnen­den Selbstiron­ie, die hier öfter mal durch die Zeilen leuchtet: „Mit showreifen

Kindern ist nicht zu spaßen.“

Natürlich muss Ikarus für seinen Ausflug ins Licht büßen, und der altersweis­e Kaulitz schreibt auch dazu ein paar Sätze, die schon Rita Hayworth gedacht haben mag, aber nie sagte: „Die Wahrheit war, OneNight-Stands machen mich nur trauriger und einsamer.“Und: „Für so viele Zimmer Zeug zu kaufen, kostet nicht nur ein Vermögen, es kostet auch Zeit.“Oder: „Wenn alle Kameras und Scheinwerf­er aus sind, alle Fans nach Hause fahren und niemand mehr hinsieht, bin ich immer noch Bill Kaulitz.“Einmal steht Kaulitz bei einer Preisverle­ihung neben Michael Jackson. Aber auch darauf blickt er inzwischen abgeklärt zurück: „Damals das fetteste Ding. Heute? Michael tot, und an den Auftritt erinnert sich kein Schwein.“

Sie hätten zwischenze­itlich die Kontrolle über ihr Leben verloren, schreibt Kaulitz über sich und seinen Bruder. Als „schwer verwöhnt und emotional unterkühlt“bezeichnet er sich. Tatsächlic­h gibt es Stellen in diesem Buch, da spürt man, dass ihm die „ganze Welt ein Feind“geworden ist. Frauen werden als „Chicks“und „Hühner“bezeichnet, eine Freundin als „Belastung aus der Heimat“abgetan, eine Tänzerin gar mit einer Bulldogge verglichen: „Da hat nichts geschwabbe­lt.“Würde da echt ein Freund reden, wie Kaulitz zwischendu­rch mit eingestreu­ten Wendungen wie „Versteh mich nicht falsch“vorgibt, man unterbräch­e ihn jetzt und fragte: Was ist los mit dir?

Am Ende kehrt nach rastlosen Jahren auf der Flucht vor Stalkern, Geldgeiern, Hatern, „Smart-Ass-Anwälten“und der Yellow Press ein bisschen Ruhe ein. Kaulitz sitzt in einem Haus „von meinem absoluten Lieblingsa­rchitekten Frank Lloyd Wright“in den Hollywood Hills. Er fühlt sich noch immer einsam, sehr sogar, aber es ist schon besser, seit sein Bruder mit Heidi Klum zusammen ist: „Mit Heidi kam die Leichtigke­it in unser Leben.“

Zum Schluss eine Danksagung. „Danke, Mama“, steht da. Und: „Tom, Du bist Ich und Ich bin Du! Ohne dich könnte ich nie sein.“Es kommt einem das alte Lied wieder in den Sinn: „Und wenn ich nicht mehr kann / Denk ich daran / Irgendwann laufen wir zusammen / Durch den Monsun / Dann wird alles gut.“

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