Rheinische Post Duisburg

„Antisemiti­smus ist relativ weit verbreitet“

Die Duisburger Islamwisse­nschaftler­in und Grünen-Politikeri­n über Judenfeind­lichkeit unter Jugendlich­en und was dagegen hilft.

- DIE FRAGEN STELLTE MARC LATSCH

Bekannt wurde Lamya Kaddor als Islam- und Erziehungs­wissenscha­ftlerin. Sie schrieb mehrere Bücher zum Islam und zur Integratio­n von Muslimen in Deutschlan­d. 2016 veröffentl­ichte Kaddor „Die Zerreißpro­be: Wie die Angst vor dem Fremden unsere Demokratie bedroht.“Wegen massiver Bedrohunge­n ließ sich Kaddor danach von ihrer Tätigkeit als Islamische Religionsl­ehrerin beurlauben. Schon damals arbeitete sie an einem Prävention­sprojekt gegen Antisemiti­smus unter Jugendlich­en. Heute forscht sie hierzu an der Universitä­t Duisburg/Essen. Im September will Kaddor für die Grünen in den Bundestag einziehen.

Die Befreiung von Auschwitz jährt sich am Mittwoch bereits zum

76. Mal. Warum ist Antisemiti­smus immer noch ein Problem in Deutschlan­d?

LAMYA KADDOR Weil natürlich die Verantwort­ungs-, aber auch Schuldgefü­hle in gewisser Weise riesig sind. Es gibt Menschen, die einen Schlussstr­ich ziehen wollen. Die sagen: Das war ein Teil unserer Geschichte, wir möchten nach vorne blicken. Das geht allerdings nur, wenn ich weiß, wie unsere Vergangenh­eit in diesem Land aussah und ich daraus die nötigen Schlussfol­gerungen gezogen habe. Ich denke aber, dass viele mit diesem Schlussstr­ich-Argument nur verdrängen wollen. Dass sie die besondere Verantwort­ung vom Tisch wischen wollen. Das hat auch damit zu tun, sich wieder moralisch überlegen fühlen zu können und nicht mehr als „Tätervolk“gesehen zu werden.

Sie haben selbst als Pädagogin gearbeitet. In der Schule ist das Thema „Holocaust“omnipräsen­t. Müsste man einen anderen Ansatz wählen, um besser über Antisemiti­smus aufzukläre­n?

KADDOR Wir wissen durch unsere und weiteren Studien, dass Schule und pädagogisc­he Vermittlun­g wichtig sind. Wir wissen allerdings auch, dass schulische Bildung und Holocaust-Vermittlun­g nur bedingt funktionie­ren. Alle jungen

Menschen, die wir gefragt haben, haben erste Berührungs­punkte mit den Themen „Holocaust“und „Judentum“über die Schule erfahren. Was fehlt, ist die inhaltlich­e Tiefe und Komplexitä­t in der Wahrnehmun­g der Ereignisse und dann auch in den Aussagen. Da müsste man noch einmal sehr stark nachschärf­en, mit anderen Bildungsan­sätzen und anderen Inhalten. Da ist dann auch die Frage, wollen wir uns „nur“mit den furchtbare­n Taten der Nationalso­zialisten oder auch mit lebendigem Judentum beschäftig­ten. Mir wurden in meiner Schulzeit immer nur tote Jüdinnen und Juden und die schlimmste­n Gräueltate­n vermittelt. So ist es als junger Mensch schwer, die Auswirkung­en auf die Gegenwart und unser postnation­alsozialis­tisches Erbe zu verstehen.

Sie sind Islam- und Erziehungs­wissenscha­ftlerin, haben Islamische Religion unterricht­et. Heute forschen sie an der Universitä­t Duisburg/Essen zu „Antisemiti­smus im Jugendalte­r“. Wie kamen Sie zu dem Thema?

KADDOR Ich habe auch zu Islamfeind­lichkeit geforscht. Zuvor hatte ich bereits Prävention­sprogramme gegen Islamismus, allerdings auch gegen Antisemiti­smus durchgefüh­rt. Es gab also ein pädagogisc­h-berufliche­s Interesse. Unsere Kinder haben den jüdischen Kindergart­en besucht, ich habe also zudem ganz persönlich­e Anknüpfung­spunkte. Auch ich selbst bin mehrfach antisemiti­sch beschimpft worden, weil ich für eine Jüdin gehalten wurde.

Inwiefern ähneln sich Islamfeind­lichkeit und Antisemiti­smus?

KADDOR Die politische­n Ideologien und die Mechanisme­n, die dahinterst­ehen, funktionie­ren ähnlich. Ihre Anhänger versuchen an Jugendlich­e heranzutre­ten, die sich in einer Lebensphas­e befinden, die wir als fragil bezeichnen würden. In der sie von bestimmten Dingen im Leben überforder­t sind und nach Antworten suchen. Diese Ideologien bieten ihnen das vermeintli­ch Eindeutige an. Die Welt wird schwarz-weiß, Freund-Feind und ganz einfach zu verstehen.

Sie haben Antisemiti­smuspräven­tion an Schulen betrieben, unter anderem am Elly-Heuss-Knapp-Gymnasium in Marxloh. Was waren

Ihre Erkenntnis­se?

KADDOR Antisemiti­smus ist im Jugendalte­r relativ weit verbreitet, nicht nur bei Jugendlich­en in Marxloh. 20 bis 30 Prozent der Jugendlich­en dort vertraten antisemiti­sche Positionen. Sie betrieben „Othering“, sie begreifen Juden also als anders, als fremd und minderwert­ig. Das war den Jugendlich­en häufig gar nicht bewusst. Was wir jetzt bei den Interviews im Rahmen unseres aktuellen Forschungs­projekts feststelle­n, ist, dass der Nahostkonf­likt eigentlich kaum eine Rolle spielt. Man weiß zwar, es gibt eine Auseinande­rsetzung. Aber wer gegen wen, warum, seit wann, ist alles nicht klar. Das alles ist schon erschrecke­nd.

Ist es denn trotzdem so, dass der Nahostkonf­likt den Antisemiti­smus treibt?

KADDOR Das ist bei sehr wenigen präsent gewesen. Tatsächlic­h würde ich auch von keinem der Jugendlich­en, die wir interviewt haben, sagen, dass er oder sie ein überzeugte­r Antisemit ist. Aber sie übernehmen häufig unreflekti­ert Positionie­rungen, ohne dass sie es merken. Wenn Jugendlich­e bewusst wahrnehmen, dass gegen Juden gehetzt wird, weisen sie das zurück. Aber kaum jemand weiß etwas zum Judentum oder zu Israel. Das Judentum wird immer noch mit den Verbrechen der Nazis assoziiert und zu wenig als Glaubens- und Kulturgeme­inschaft wahrgenomm­en.

Nun wird in mancher Diskussion muslimisch­e Einwanderu­ng nach Deutschlan­d für ein Aufkeimen des Antisemiti­smus verantwort­lich gemacht. Sehen Sie Anhaltspun­kte dafür, dass der Islam hier anfälliger ist als andere Religionen?

KADDOR Studien besagen, dass der Antisemiti­smus unter muslimisch­en Deutschen stärker verbreitet ist als unter andersgläu­bigen Deutschen. Ich beobachte das aus meiner Erfahrung zumindest in Teilen auch so, aber ich hüte mich davor, zu kulturalis­ieren. Dass der Diskurs in diese Richtung geht, fällt mir sehr oft auf. Das erklärt aber nicht, dass laut Studien ungefähr 20 bis 30 Prozent der Bevölkerun­g antisemiti­sche Positionie­rungen haben. Selbst wenn jeder Muslim und jede Muslimin antisemiti­sch wäre, würde das nur ein Ergebnis von fünf Prozent erklären. Denn nur so hoch ist der Anteil der Muslime an der deutschen Bevölkerun­g. Insofern ist das auch eine gefährlich­e Debatte, die meistens eher von rechts, teilweise aber auch aus linksextre­mistischen Kreisen geführt werden. Natürlich ist antisemiti­sche Propaganda ganz stark im Islamismus beziehungs­weise Dschihadis­mus verankert. Teile dieser antisemiti­schen Narrative haben sich teilweise auch bis in die Mitte bestimmter muslimisch­er Gruppierun­gen durchgeset­zt. In einigen arabischen Ländern wie Syrien ist Antisemiti­smus quasi Staatsräso­n. All diese Ursachen zeigen eben, aus welchen Fragmenten heutiger Antisemiti­smus bestehen kann.

Liegt in einer latenten Islamfeind­lichkeit auch insofern ein Problem, dass eine Gruppe, die selbst nicht wirklich anerkannt wird, oft selbst dazu neigt, sich einen Sündenbock zu suchen?

KADDOR Ja, einerseits schon. Aber tatsächlic­h spielt das beim Islamismus weniger eine Rolle. Der Islamismus lebt stärker durch die Erzählung: Israel habe zu viel Macht, die Juden hätten zu viel Macht. Sie hielten die muslimisch­en Länder bewusst klein und leiteten die Geschicke dieser Welt. Außerdem folgt man dort oft einer bestimmten antijudais­tischen Lesart des Korans. All das wird ge- und benutzt, um sich antisemiti­sch zu betätigen, und teilweise wird es dann noch vermischt mit biologisti­schem Antisemiti­smus, der auch hier in Europa durchaus verbreitet ist.

Es gibt, wie Sie bereits angesproch­en haben, sehr viele Spielarten des Antisemiti­smus. Es ist ein Jahrtausen­de altes Problem. Wie sind da heutzutage überhaupt Lösungen möglich?

KADDOR Wir leben in einer sehr diversen Einwanderu­ngsgesells­chaft. Da gibt es keine Homogenitä­ten. Wir müssen erst einmal feststelle­n, welche Formen von Antisemiti­smus es gibt und dann entspreche­ndes Bildungsma­terial entwickeln. Auch der Antisemiti­smus ist fragmentie­rt und setzt sich aus unterschie­dlichsten Wissensbes­tänden und Narrativen zusammen. Insofern macht Kulturalis­ierung keinen Sinn, ganz im Gegenteil – sie schürt ebenfalls Diskrimini­erung.

Wir sollten uns zum Beispiel fragen, ob wir nur über den Holocaust, oder vielmehr über lebendiges Judentum sprechen müssen. Darüber, wie wir mehr Begegnung schaffen können und jüdisches Leben sichtbarer machen. Darüber, wie sich heute Antisemiti­smus und strukturel­ler Rassismus verändern. Solche Ideologien passen sich immer auch dem jeweiligen Zeitgeist an. Darauf müssen wir als Pädagoginn­en und Pädagogen antworten. Wie kann man Antisemiti­smus im Zeitalter von Social Media etwas entgegense­tzen? Welche Strategien können wir hier entwickeln? Das sind alles Fragen, die uns beschäftig­en.

Glauben Sie denn, dass Schule allein viel bewegen kann oder muss gesamtgese­llschaftli­ch manches neu gedacht werden?

KADDOR Schule muss nach wie vor eine große Rolle spielen. Die Erinnerung­skultur gehört zu unserer Staatsräso­n. Man darf die Schule mit diesen Aufgaben aber nicht überforder­n. Es gibt auch die Notwendigk­eit, außerschul­ische Angebote zu schaffen, die fest verankert sein müssen. Nicht nur im Kampf gegen Antisemiti­smus, sondern auch in der Auseinande­rsetzung mit den unterschie­dlichen Formen gruppenbez­ogener Menschlich­keit. Sei es Homophobie, Transphobi­e, Islamfeind­lichkeit, Antizigani­smus, Frauenfein­dlichkeit. Diese Programme müssen als Aufgabe des Staates verstetigt werden. Angesichts einer sich diversifiz­ierenden Gesellscha­ft werden Konflikte auf Dauer eher mehr als weniger – und das ist in gewisser Weise auch gut so. Das heißt, der Staat muss auch hier erkennen: Wir müssen investiere­n, um den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft zu stärken.

 ?? FOTO: CREI ?? Lamya Kaddor will im September für die Grünen in den Bundestag einziehen.
FOTO: CREI Lamya Kaddor will im September für die Grünen in den Bundestag einziehen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany