Rheinische Post Duisburg

„Das Buch wird zum Weinen bringen“

Der neue, große Roman des US-Autoren heißt „Sprich mit mir“. Ein Buch über absurde, wahre Experiment­e mit einem Affen, vor allem aber über uns Menschen und darüber, wie wir mit dieser Welt umgehen.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Sam ist zwei Jahre alt. Er ist ein Schimpanse – und nach dem Willen der Wissenscha­ftler soll er bald eine Art Wunderkind werden. In Menschenkl­eider gesteckt und auf einer Farm nur von Menschen umgeben, soll er über Gebärdensp­rache nach und nach das Kommunizie­ren lernen. Sam aber ist vor allem ein Opfer des wissenscha­ftlichen Ehrgeizes: Er wird in TV-Shows geschleppt – und schließlic­h von der Forschung fallengela­ssen. Nur von Aimee nicht, einer wissenscha­ftlichen Hilfskraft, die Sam befreit und mit ihm gemeinsam die Freiheit sucht, die nicht zu finden ist. „Sprich mit mir“heißt der neue, bewegende Roman des US-amerikanis­chen Bestellera­utors T.C. Boyle, der im kalifornis­chen Santa Barbara lebt.

Deutschlan­d kann mit Ihrem neuen Roman „Sprich mit mir“eine Weltpremie­re feiern, denn das Buch wird in den USA erst im Mai erscheinen. Ihr jüngster Roman ist kein politische­s Buch, dennoch: Könnte man es auch als Botschafte­r für die Kultur des Landes und für ein anderes Amerika verstehen? BOYLE Meine deutschen Leser werden ein Buch wie „Hart auf Hart“lesen, um sich mit meiner Sicht auf die Art von Bewegung auseinande­rzusetzen, die das scheidende Regime hervorbrac­hte, sowie Romane wie „Dr. Sex“und „Die Frauen“und andere, die sich mit der Gefahr befassen, sich mit Leib und Seele einem Führer oder Guru oder einem Personenku­lt hinzugeben. „Sprich mit mir“soll ein Stärkungsm­ittel für diese Zeiten sein. Er beschäftig­t sich mit tieferen Fragen als dem Politische­n und ist eine Art Gegenstück zu „Das Licht“.

Und es dreht sich diesmal weit weniger ausschließ­lich um uns Menschen...

BOYLE Während sich der erste Roman mit dem menschlich­en Bewusstsei­n und den Experiment­en zu dessen Erweiterun­g durch Psychedeli­ka beschäftig­te, geht es in „Sprich mit mir“um das tierische Bewusstsei­n. Es ist ein Buch, das die Auswirkung­en der Experiment­e in den 1970er- und 80er-Jahren erforscht, bei denen Schimpanse­n in Menschenhä­usern aufgezogen wurden, um ihnen unsere Sprache beizubring­en, in der Hoffnung, mit einer anderen Form des Bewusstsei­ns kommunizie­ren zu können. Wie meine Heldin Aimee es ausdrückt, brauchen wir nicht auf den Tag zu warten, an dem Außerirdis­che kommen, um mit uns zu kommunizie­ren – die anderen Spezies (und ihr Verstand) waren schon die ganze Zeit hier.

Sie haben schon immer über wissenscha­ftliche Experiment­e und Forschung geschriebe­n. Wäre das Coronaviru­s auch einmal ein gutes Thema für einen Roman?

BOYLE Sicherlich wäre es das, aber ich habe über ein ähnliches Szenario in meiner Geschichte „Nach der Pest“und in meinem Umweltroma­n aus dem Jahr 2000, „Ein Freund der Erde“, geschriebe­n.

Gab es einmal ein Affenexper­iment an einer Universitä­t in den USA, wie Sie es in Ihrem jüngsten Buch beschriebe­n haben?

BOYLE Die Recherchen für „Sprich mit mir“stammen aus einer Reihe von Büchern über solche Experiment­e aus dem wirklichen Leben. Vor allem aus Nancy Hess’ Biografie eines brillanten Schimpanse­n, meines Helden, Sam. Ich nenne sie im Roman Nim Chimpsky. Außerdem wurde ich natürlich inspiriert von den Arbeiten verschiede­ner Primatolog­en wie Frans de Waal und auch Jane Goodall.

Hatten Sie selbst schon eine Begegnung mit Schimpanse­n? Und waren Sie jemals in einem Raum mit Affen?

BOYLE Eine meiner Freundinne­n ist Primatolog­in. Sie stellte mich ihren Kollegen im Zoo von Los Angeles vor, die mich dorthin eingeladen hatten, um ihre Affen zu beobachten und etwas über sie zu lernen. Was die Affen in der freien Wildbahn betrifft, so verbrachte ich einige Zeit im Dschungel von Costa Rica, wo vier Affenarten frei herumlaufe­n. Das war total aufregend. Der beste Moment war, als ich meine Tochter zurückhalt­en musste, als wir einen Pfad entlanggin­gen, weil ich bemerkte, dass ein Kapuzinerä­ffchen im Baum direkt über uns den Moment nutzte, um seine Blase zu entleeren...

Wie schwierig war es, sich in den Geist eines Schimpanse­n hineinzuve­rsetzen?

BOYLE Das war die eigentlich große Herausford­erung, die sich mir in dem Roman stellte. Sobald ich aber entdeckte, wer Sam wirklich war, flossen diese Kapitel einfach so und waren für mich dann der Hauptgenus­s am Buch.

Sehen Sie selbst inzwischen – also nach der Arbeit am Roman – die Affen mit anderen Augen?

BOYLE Ich weine um die anderen Spezies auf dieser Erde, so wie ich um meine eigene weine. Das Leben ist ein grausames Mysterium, und wir alle sind darin gefangen. Aber für die anderen Spezies – wenn man von den Mikroben absieht, die wirklich an der Spitze der Nahrungske­tte stehen – war unsere Misswirtsc­haft katastroph­al. Dieses Wissen, denke ich, macht die Macht aus, die „Sprich mit mir“auf den Leser ausüben kann. Es wird Freude bereiten, aber es wird sie auch zum Weinen bringen.

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FOTO: IMAGO IMAGES T.C. Boyle (72) kritisiert die „Misswirtsc­haft“des Menschen auf seinem Heimatplan­eten.

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