Alarm für die Terrorabwehr
In diesem Jahr kommen bis zu 43 potenziell gefährliche Islamisten in Deutschland auf freien Fuß. Die Grünen fordern deshalb neue gesetzliche Grundlagen. Wenn sich Terrorpläne verdichteten, dürfe das den Behörden nicht entgehen.
BERLIN Die Sicherheitsbehörden in Deutschland müssen sich dringend auf neue Herausforderungen durch islamistische Gefährder einstellen. Wie die Bundesregierung jetzt auf Grünen-Anfrage mitteilte, ist damit zu rechnen, dass bis zu 43 potenziell gefährliche und derzeit noch inhaftierte Islamisten im Laufe dieses Jahres auf freien Fuß kommen werden.
Die Grünen sorgen sich, dass die Gefährder-Einstufung und die Abstimmung von Überwachungsmaßnahmen im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) immer noch nicht so sind, wie sie sein sollten. Erst im November war in Österreich ein entlassener Islamist von den Behörden falsch eingeschätzt worden. Er hatte bei einem Anschlag in Wien vier Menschen getötet und 20 weitere zum Teil schwer verletzt, bevor er von Sicherheitskräften erschossen wurde.
Verbindungen gab es seinerzeit auch nach Deutschland. So hätten die Wiener Behörden spätestens nach einem Treffen des 20-jährigen, aus Nordmazedonien stammenden Mannes im Juli mit Islamisten aus Deutschland und der Schweiz alarmiert sein müssen. Bereits im Februar hatte der österreichische Heeresnachrichtendienst explizit vor dem späteren Attentäter gewarnt, nachdem dieser Kontakt zu einem Mitglied der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) aufgenommen hatte.
Der 20-Jährige war wegen des Versuchs, in Syrien für den IS zu kämpfen, zu einer 22-monatigen Haftstrafe verurteilt worden, konnte jedoch vorzeitig das Gefängnis wieder verlassen. Er hatte die erfolgreiche Teilnahme an einem Deradikalisierungsprogramm vorgetäuscht. Auch in Deutschland konnte die Bundesregierung letztlich keine verbindlichen Angaben zum Zeitpunkt der anstehenden Haftentlassung von Dschihadisten machen, da diese zum Teil im Moment noch gar nicht feststünden.
Unter dieser Einschränkung teilte das Justizministerium als Ergebnis einer Umfrage unter den für den Strafvollzug zuständigen Ländern mit, dass im Jahr 2021 nach derzeitigem Kenntnisstand „zwischen 20 und 26 Personen“aus der Haft entlassen würden, die wegen einer Tat im Zusammenhang mit islamistisch motiviertem Terrorismus inhaftiert seien. Hinzu kämen 17 weitere Personen, die zwar wegen anderer Straftaten verurteilt worden seien, wegen Islamismus oder Verdachts darauf aber unter besonderer Beobachtung stünden.
„Wenn in diesem Jahr bis zu 43 möglicherweise gewalt- oder gar anschlagsbereite Islamisten aus dem Gefängnis kommen, muss sichergestellt sein, dass es im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum eine konsistente Strategie zum Umgang mit diesen Menschen gibt“, sagte Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic unserer Redaktion. Es gehe darum zu priorisieren und darum, von vornherein klar zu bestimmen, welche Behörden für wen verantwortlich sind. „Wenn sich Anschlagspläne verdichten, darf uns das in keinem Fall entgehen“, verlangte Mihalic. Der Fall des Breitscheidplatzattentäters Anis Amri habe schon einmal klar aufgezeigt, wie man es nicht machen dürfe.
Wie mehrere Untersuchungsausschüsse nach dem Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt mit zwölf Toten und mehr als 60 Verletzten herausfanden, war der Täter über viele Monate hinweg immer wieder Gegenstand der Absprachen im GTAZ gewesen. Die Überwachung lag jedoch in den Händen der Behörden in Nordrhein-Westfalen und Berlin, die die Gefährlichkeit unterschiedlich bewerteten, die Observation
beendeten, nicht genügend Nachdruck auf eine mögliche Inhaftierung und Abschiebung legten und ihn zuletzt ganz aus dem Blick verloren.
„Meine Sorge ist, dass die Zusammenarbeit im GTAZ immer noch nicht grundlegend reformiert wurde“, erklärte Mihalic. Die im GTAZ zusammenarbeitenden Vertreter von 40 Sicherheitsbehörden treffen sich täglich, um besondere Vorkommnisse und bekannte Gefährder zu besprechen. Das GTAZ ist keine Behörde mit klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten, sondern lediglich eine Plattform, die 2004 nach den Terroranschlägen von New York und Washington ins Leben gerufen worden war. Wie das Innenministerium betont, gibt es deshalb auch keinen Leiter, sondern nur eine Kooperation „auf Augenhöhe“. Damit gibt es auch keine verbindlichen Anweisungen und Rückmeldepflichten, wie die einzelnen Bundes- und Landesbehörden mit gefährlichen Personen umgehen sollen. Mihalic hält deshalb eine „klare gemeinsame Rechtsgrundlage für unbedingt nötig“.