Der Sofort-Landrat
KREIS WESEL Der Fernseher wurde schon oft tot gesagt, von der Jugend zumeist oder eben von Leuten, die gern noch zur Jugend gehören würden. Ingo Brohl, das wird man trotz seines Alters von 44 Jahren feststellen dürfen, zählt eher nicht mehr zur Jugend. Mit dem Fernsehgerät kann er trotzdem nicht mehr viel anfangen. Seitdem er Landrat ist, vermag er beim Fernsehen nicht mehr zu entspannen. Zu viel Corona, zu viel Alltagskram, der ihn an seinen Job erinnert.
Satte drei Monate ist der CDU-Politiker aus Moers nun Verwaltungschef im Weseler Kreishaus. Üblicherweise gewährt man Neulingen im Amt 100 Tage Zeit, um sich einzuarbeiten, sich einzugewöhnen, fachlich wie atmosphärisch. Diese 100 Tage hatte Ingo Brohl nicht. „Ich musste sofort Landrat sein“, sagt er. So ist das eben in einer Pandemie, könnte man sagen. Aber Brohls Herausforderungen sind dann doch etwas größer, als für einen Landrat üblich.
Am 2. November 2020, dem ersten Arbeitstag des Neuen an der Reeser Landstraße, da liegt die Sieben-Tage-Inzidenz im Kreis Wesel bei 92,6. Ein Wert, der manchen heutzutage als beruhigend gilt, der damals aber ziemlich bedrohlich war. Die zweite Welle der Corona-Pandemie kündigte sich nicht mehr an, sie war voll da. Seit dem Amtsantritt von Ingo Brohl befindet sich das Land in unterschiedlich ausgestalteten Varianten des Lockdowns. Ein Thema für seine Agenda musste er sich nicht suchen.
Landräte stehen, bei allem Respekt, eigentlich nicht im Mittelpunkt. Nur wenige können auf Anhieb erklären, was ein Landrat eigentlich so macht und was ihn von einem Bürgermeister unterscheidet. Landräte sah man früher viel auf Empfängen, Einweihungen, Geburtstagen, also überwiegend angenehmen Veranstaltungen. Aber weil das komplexe Gefüge des föderalen Bundesstaats es so will, ist die Untere Gesundheitsbehörde für die Pandemiebekämpfung zuständig. Und deren Chef ist nunmal der Landrat.
Wenn Ingo Brohl also nicht mehr vor dem Fernseher abschalten kann, dann liegt das daran, dass die Viren, gegen die er tagsüber kämpft, auch abends durch die Röhre flimmern, wie die Jugend wohl eher nicht sagen würde.
Im Wahlkampf, der absurd lange zurückzuliegen scheint, da spielte das Virus kaum eine Rolle. Es ging um den Öffentlichen Personennahverkehr, es ging um Digitalisierung, es ging um Tourismusförderung, es ging, natürlich, um Kies.
Inmitten der zweiten Pandemie-Welle hat Ingo Brohl sein Amt als Landrat im Kreis Wesel angetreten. Für neue Impulse blieb ihm bislang kaum Zeit, trotzdem hat er immer wieder für Wirbel gesorgt. Einige Bemerkungen zu den ersten 100 Tagen.
Heute, zahlreiche Corona-Mutationen später, wirken die Forderungen von damals wie aus der Zeit gefallen. Vielleicht aber waren sie es auch im Spätsommer 2020 schon.
Ingo Brohl war vor seiner Zeit als Landrat Fraktionsvorsitzender der CDU im Moerser Stadtrat. Die Positionen unterscheiden sich erheblich: Der Fraktionschef ist Politiker, der Landrat Bürokrat. Wenn man etwas über Ingo Brohl aus seinen ersten 100 Tagen im Kreishaus gelernt hat, dann, dass noch eine ordentliche Portion Politiker in dem Bürokraten steckt.
Über sich selbst sagt er: „Ich bin nicht in einem reinen Krisen-Bewältigungsmodus.“Aber die Krise nimmt schon sehr viel Zeit ein. Für neue Impulse blieb ihm bislang kaum Zeit. Und trotzdem hat Ingo Brohl hier und da für Wirbel gesorgt. Der Fraktionschef in ihm meldete sich dann.
Zum Beispiel der Wolf. Es ist die erste Amtswoche, in der sich über ein Interview mit unserer Redaktion die Haltung des Kreises in dieser Frage ändert. Er spricht sich klar für eine Entnahme der Wölfin GW954f aus, für eine Tötung. Das ist in der CDU keine unpopuläre Position, die Brohl auch schon zuvor vertreten hat, im Gegensatz zu seinem SPD-Amtsvorgänger Ansgar Müller. Aber der Landrat polarisiert damit deutlich. Brohl verprellt Wolf-Beschützer und enttäuscht zugleich die Wolf-Gegner. Immerhin ist der Kreis dafür gar nicht zuständig.
Sascha H. Wagner ist Fraktionsvorsitzender der Linken. Seit im Kreistag eine Jamaika-Koalition die Mehrheit hat und die SPD ihre neue Rolle nicht findet (um nicht zu sagen: in der Bedeutungslosigkeit zu versinken droht), ist Wagner so etwas wie der Oppositionsführer. Die Linke stellt zwar nur drei von 66 Kreistagsmitgliedern, aber sie ist präsent und trifft mit ihrer Kritik immer wieder wunde Punkte.
Wagner empfiehlt Brohl statt eines professionellen Medien-Coachings, das der Landrat in Anspruch genommen habe, „ein Coaching für Demut und Verantwortungsbewusstsein“. Unserer Redaktion sagt Wagner: „Anstatt jenseits seiner Amtsbefugnisse über das Töten von Wölfen zu träumen, könnte er ja mal öffentlichkeitswirksam Druck gegenüber Ministerpräsident Laschet oder der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein zum Impfvorgehen aufbauen.“
Brohl allerdings sagt: „Jens Spahn hat gesagt, dass wir viele Fehler verzeihen werden müssen. Ich kann nicht ganz so viele bei uns feststellen.“Probleme, die es bei den Impfungen der Altenheime zunächst gab, verortet er bei der Kassenärztlichen Vereinigung – gelöst wurden sie nach Brohls Meinung durch den Kreis. Linken-Politiker Wagner meint allerdings: „Ganz im Stil seiner CDU-Freunde in Landes- und Bundesregierung wird hier eine Fassade der Unfehlbarkeit aufrechterhalten, während die Menschen zunehmend vom Gefühl der Kontrolllosigkeit gelähmt sind.“Er meint vor allem das Chaos bei der Terminvergabe.
Brohl sagt: „Wir sollten den Menschen weniger Hoffnung machen.“Und trotzdem weckt er gelegentlich Erwartungen, deren Erfüllen er nicht selbst garantieren kann. Bei der Frage des zweiten Impfzentrums ist er vorgeprescht, verkündet, dass es Standorte gibt. Aber das Land Nordrhein-Westfalen genehmigt bislang gar keine zwei Impfzentren pro Kreis. Brohl, der sich seiner guten Kontakte in die Landesregierung rühmt, sagt: „Der Minister ist in dieser Frage nicht mehr so hart.“Aber eine Entscheidung für ein zweites Zentrum ist auch nicht absehbar.
Ingo Brohl, der sofort Landrat sein musste, hat, so könnte man sagen, in 100 Tagen für mehr Aufregung gesorgt als sein Amtsvorgänger in 16 Jahren. Das Coronavirus wird Brohls Untere Gesundheitsbehörde voraussichtlich noch länger beschäftigen. Auch Ingo Brohl wäre es wohl, die Pandemie nähme ein Ende. „Ich würde gerne öfter aus dem Hamsterrad rauskommen, um den Kopf zu haben für langfristige, strategische Fragestellungen“, sagt er.
Bis dahin muss er andere Wege finden, Zerstreuung zu finden. Weil das mit dem Fernseher nicht klappt, liest Ingo Brohl am Abend. Zur Zeit: „Olympia“von Volker Kutscher.