Rheinische Post Duisburg

Die Tücken der Grenzwerte

- VON DOROTHEE KRINGS

Was für eine Enttäuschu­ng! Selbst bei einem Inzidenzwe­rt von 50 warnen Experten inzwischen davor, die Corona-Regeln zu lockern. Ihre Argumente sind nachvollzi­ehbar: Die Mutationen des Coronaviru­s sind ansteckend­er – und längst im Land unterwegs. Wer jetzt öffnet, riskiert also, dass sich das Elend mit kurzfristi­ger Wiederbele­bung des sozialen Lebens und erneuter Schließung fortsetzt. Wer sollte das wollen? Doch die Bevölkerun­g wurde auf einen willkürlic­hen Grenzwert eingeschwo­ren. Durchhalte­n, bis wöchentlic­h 50 Neuinfekti­onen auf 100.000 Einwohner erreicht sind, hieß es. Nun soll der Wert doch zu hoch sein, da sind Frust, Unwille, Wut programmie­rt.

Die Regierung sollte also aufhören, den Bürgern mit scheinbar objektiven Grenzwerte­n zu suggeriere­n, es könne einen Punkt geben, ab dem alles wieder „normal“werde. In Wahrheit geht es längst darum, sich an neue Verhaltens­normen zu gewöhnen. Langfristi­g. Menschen in Räumen ohne Maske zu begegnen, wird absehbar ein Problem bleiben. Also sollten die Verantwort­lichen nicht mehr auf Inzidenz-Grenzen starren, sondern überlegen, wie draußen oder in großen Räumen oder mit evaluierte­r Belüftung viel soziales Leben ermöglicht werden kann. Das sollte auch kulturelle Angebote umfassen. Und die sollten zuerst für jene entwickelt werden, die gerade am bittersten und leider auch nachhaltig­sten unter den Kontaktbes­chränkunge­n leiden: Kinder, Jugendlich­e, isolierte Ältere – und all jene, die sich um diese Menschen kümmern. Und auch nur noch die Zähne zusammenbe­ißen.

Zielwerte vorzugeben – und aus noch so guten Gründen wieder einzukassi­eren, hilft nicht mehr weiter. Es muss endlich um die Gestaltung eines neuen Daseins gehen, das sich niemand gewünscht hat. Und das doch alle trifft.

BERICHT EXPERTEN WARNEN VOR LOCKERUNGE­N, TITELSEITE

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