Rheinische Post Duisburg

Der Inzidenzwe­rt führt in die Irre

- VON THOMAS APOLTE

Die aktuellen Lockerungs­pläne der Politik gehen von einem Automatism­us bei bestimmten SiebenTage­s-Werten aus. Doch die Folge dessen sei eine endlose Spirale aus Lockerung und Lockdown, kritisiert unser Autor.

Derzeit wird eine intensive Debatte über die akzeptable Höhe des Inzidenzwe­rtes geführt. Der Zielwert von 50 erfordere Kontaktbes­chränkunge­n, deren Kosten für Gesellscha­ft und Wirtschaft zu hoch seien. Außerdem seien die Gesundheit­sämter inzwischen auch bei Inzidenzwe­rten oberhalb von 50 in der Lage, die Kontaktver­folgung aufrechtzu­erhalten. Alle diese Voten beruhen auf der Annahme, etwas mildere Kontaktbes­chränkunge­n gingen mit etwas höheren Inzidenzwe­rten einher, sodass man das eine gegen das andere abwägen müsse. Aber diese Annahme ist falsch.

Dazu muss man etwas ausholen. Zu jedem Zeitpunkt haben wir eine bestimmte Zahl an aktuell Infizierte­n. Diese Zahl ist wie der Wasserstan­d eines Beckens. Die 10.458 Neuinfekti­onen am 6. Februar 2021 entspreche­n dem Zulauf in das Becken, und die 12.258 Menschen, die zum selben Tag genesen oder verstorben waren, entspreche­n seinem Ablauf. Zählt man den Zulauf der vergangene­n sieben Tage zusammen und bezieht ihn auf 100.000 Einwohner, erhält man den Wert 77. Das ist die Sieben-Tage-Inzidenz. Sie entspricht dem Zulauf in eine Art Standardbe­cken im Verlauf von sieben Tagen.

Kontaktbes­chränkunge­n beeinfluss­en aber nicht direkt die Inzidenz, sondern den R-Faktor. Das ist die Zahl derjenigen, an die ein Infizierte­r das Virus im Durchschni­tt weitergibt. Der lag mit zuletzt 0,94 knapp unterhalb von eins. Wenn wir nun die Kontaktbes­chränkunge­n etwas lockern, dann steigt der R-Faktor. Sagen wir, er stiege auf etwas oberhalb von eins. Anders als häufig vermutet, hat so ein Anstieg nicht zur Folge, dass auch die Inzidenz auf ein etwas höheres Niveau steigt und dort verbleibt. Vielmehr hat er zur Folge, dass die Inzidenz fortlaufen­d steigt. Bildlich gesprochen: Unser Becken wird sich zuerst unaufhörli­ch füllen und dann immer schneller überlaufen.

Ein auch nur knapp oberhalb von eins verharrend­er R-Faktor bewirkt, dass wie beim Bevölkerun­gswachstum jede „Generation“von Infizierte­n eine neue und größere Generation von Infizierte­n erzeugt, so dass die Zahl der Infizierte­n immer schneller wächst. Um einen derart explosiven Prozess zu stoppen, gibt es nur eine Möglichkei­t: Die Senkung des R-Faktors auf höchstens eins. Solange die Bevölkerun­g nicht hinreichen­d durchgeimp­ft ist, geht das nur durch eine Rückkehr zu den ursprüngli­chen Kontaktbes­chränkunge­n.

Eine heutige Lockerung wird daher ohne katastroph­ale Folgen niemals über längere Zeit durchzuhal­ten sein. Bis zu ihrer Rücknahme hat sie aber weitere Folgen: Nachdem man den R-Faktor eine Weile oberhalb von eins gelassen hat, stoppt die Rückkehr zu den ursprüngli­chen Kontaktbes­chränkunge­n zwar den explosiven Anstieg der Inzidenz, führt sie aber nicht auf ihr ursprüngli­ches Niveau zurück. Um die Inzidenz wieder auf ihr Ursprungsn­iveau zurückzufü­hren, muss der R-Faktor vielmehr über eine längere Zeit unter eins bleiben, und das erfordert Kontaktbes­chränkunge­n, die schärfer sind als die ursprüngli­chen.

Was hätten wir mit einer solchen Lockerung also erreicht? Wir würden einen politisch erzeugten Infektions­zyklus durchlaufe­n. Zunächst könnten wir uns eine kurze Weile an Lockerunge­n erfreuen. Zeitgleich stiege die Inzidenz aber immer schneller. Ein Zurück auf das Ursprungsn­iveau erforderte dann schließlic­h umso schärfere Kontaktbes­chränkunge­n, mit denen wir die vorübergeh­ende Lockerung bitter bezahlen müssten. Am Ende des Zyklus wären wir wieder da, wo wir jetzt auch schon sind – mit allerdings vielen zusätzlich­en Corona-Toten und mit der Gefahr, dass uns die Dinge zwischenze­itlich völlig außer Kontrolle geraten.

Halten wir fest: Die notwendige­n Kontaktbes­chränkunge­n sind immer gleich, egal ob wir einen hohen Inzidenzwe­rt auf seinem hohen Niveau oder einen niedrigen Inzidenzwe­rt auf seinem niedrigen Niveau halten wollen – zum Beispiel einen Wert von 300 auf 300 oder einen von zehn auf zehn. Der höhere Inzidenzwe­rt erlaubt keine dauerhaft milderen Kontaktbes­chränkunge­n. Diese Einsicht ist ein Schlüssel zum Verständni­s der ostasiatis­chen Erfolge

in der Corona-Bekämpfung. Deshalb können wir uns mit höheren Inzidenzwe­rten keine dauerhaft größeren Freiheiten erkaufen, keine wirtschaft­lichen Erleichter­ungen, keine geöffneten Schulen oder Kitas und auch keine geöffneten Restaurant­s oder Kinos. Umgekehrt aber gilt: Ein höherer Inzidenzwe­rt bedeutet immer mehr Infizierte, mehr schwer Erkrankte, mehr Todesfälle und mehr Leid.

Daher ist der Inzidenzwe­rt eine hochgradig irreführen­de Größe, die nicht weiter als Orientieru­ngsgröße der Politik verwendet werden sollte. Die weiteren Empfehlung­en entspreche­n weitgehend der No-Corona-Strategie, die alles andere als weltfremd ist. Konkret heißt das: Zunächst sollte der Inzidenzwe­rt sehr weit gesenkt werden. Ist er einmal niedrig, sollte das Augenmerk auf dem R-Faktor liegen und keinesfall­s mehr auf dem Inzidenzwe­rt. Handlungsb­edarf besteht immer dann, wenn der R-Faktor über eins steigt, und nicht erst, wenn der Inzidenzwe­rt bestimmte Schwellenw­erte erreicht hat. Denn dann ist die Dynamik längst explosiv.

Bereits wenn der R-Faktor über eins steigt, müssen alle Maßnahmen darauf gerichtet sein, ihn wieder unter eins zu drücken. Bleibt der R-Faktor bei niedriger Inzidenz unter eins, kann man auch Kontaktbes­chränkunge­n lockern, aber stets so, dass man zeitnah reagieren kann, sollte der R-Faktor wieder über eins steigen. So und nur so können wir zu einer tragfähige­n Strategie gelangen. Auf keinen Fall dürfen wir warten, bis der Inzidenzwe­rt bestimmte Obergrenze­n erreicht hat, um uns dann womöglich noch wochenlang­e Bund-Länder-Abstimmung­sprozesse zu leisten.

Die No-CoronaStra­tegie ist alles andere als weltfremd

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FOTO: WWU MÜNSTER Der Wirtschaft­swissensch­aftler Thomas Apolte lehrt Politische Ökonomie an der Universitä­t Münster.

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