Der Inzidenzwert führt in die Irre
Die aktuellen Lockerungspläne der Politik gehen von einem Automatismus bei bestimmten SiebenTages-Werten aus. Doch die Folge dessen sei eine endlose Spirale aus Lockerung und Lockdown, kritisiert unser Autor.
Derzeit wird eine intensive Debatte über die akzeptable Höhe des Inzidenzwertes geführt. Der Zielwert von 50 erfordere Kontaktbeschränkungen, deren Kosten für Gesellschaft und Wirtschaft zu hoch seien. Außerdem seien die Gesundheitsämter inzwischen auch bei Inzidenzwerten oberhalb von 50 in der Lage, die Kontaktverfolgung aufrechtzuerhalten. Alle diese Voten beruhen auf der Annahme, etwas mildere Kontaktbeschränkungen gingen mit etwas höheren Inzidenzwerten einher, sodass man das eine gegen das andere abwägen müsse. Aber diese Annahme ist falsch.
Dazu muss man etwas ausholen. Zu jedem Zeitpunkt haben wir eine bestimmte Zahl an aktuell Infizierten. Diese Zahl ist wie der Wasserstand eines Beckens. Die 10.458 Neuinfektionen am 6. Februar 2021 entsprechen dem Zulauf in das Becken, und die 12.258 Menschen, die zum selben Tag genesen oder verstorben waren, entsprechen seinem Ablauf. Zählt man den Zulauf der vergangenen sieben Tage zusammen und bezieht ihn auf 100.000 Einwohner, erhält man den Wert 77. Das ist die Sieben-Tage-Inzidenz. Sie entspricht dem Zulauf in eine Art Standardbecken im Verlauf von sieben Tagen.
Kontaktbeschränkungen beeinflussen aber nicht direkt die Inzidenz, sondern den R-Faktor. Das ist die Zahl derjenigen, an die ein Infizierter das Virus im Durchschnitt weitergibt. Der lag mit zuletzt 0,94 knapp unterhalb von eins. Wenn wir nun die Kontaktbeschränkungen etwas lockern, dann steigt der R-Faktor. Sagen wir, er stiege auf etwas oberhalb von eins. Anders als häufig vermutet, hat so ein Anstieg nicht zur Folge, dass auch die Inzidenz auf ein etwas höheres Niveau steigt und dort verbleibt. Vielmehr hat er zur Folge, dass die Inzidenz fortlaufend steigt. Bildlich gesprochen: Unser Becken wird sich zuerst unaufhörlich füllen und dann immer schneller überlaufen.
Ein auch nur knapp oberhalb von eins verharrender R-Faktor bewirkt, dass wie beim Bevölkerungswachstum jede „Generation“von Infizierten eine neue und größere Generation von Infizierten erzeugt, so dass die Zahl der Infizierten immer schneller wächst. Um einen derart explosiven Prozess zu stoppen, gibt es nur eine Möglichkeit: Die Senkung des R-Faktors auf höchstens eins. Solange die Bevölkerung nicht hinreichend durchgeimpft ist, geht das nur durch eine Rückkehr zu den ursprünglichen Kontaktbeschränkungen.
Eine heutige Lockerung wird daher ohne katastrophale Folgen niemals über längere Zeit durchzuhalten sein. Bis zu ihrer Rücknahme hat sie aber weitere Folgen: Nachdem man den R-Faktor eine Weile oberhalb von eins gelassen hat, stoppt die Rückkehr zu den ursprünglichen Kontaktbeschränkungen zwar den explosiven Anstieg der Inzidenz, führt sie aber nicht auf ihr ursprüngliches Niveau zurück. Um die Inzidenz wieder auf ihr Ursprungsniveau zurückzuführen, muss der R-Faktor vielmehr über eine längere Zeit unter eins bleiben, und das erfordert Kontaktbeschränkungen, die schärfer sind als die ursprünglichen.
Was hätten wir mit einer solchen Lockerung also erreicht? Wir würden einen politisch erzeugten Infektionszyklus durchlaufen. Zunächst könnten wir uns eine kurze Weile an Lockerungen erfreuen. Zeitgleich stiege die Inzidenz aber immer schneller. Ein Zurück auf das Ursprungsniveau erforderte dann schließlich umso schärfere Kontaktbeschränkungen, mit denen wir die vorübergehende Lockerung bitter bezahlen müssten. Am Ende des Zyklus wären wir wieder da, wo wir jetzt auch schon sind – mit allerdings vielen zusätzlichen Corona-Toten und mit der Gefahr, dass uns die Dinge zwischenzeitlich völlig außer Kontrolle geraten.
Halten wir fest: Die notwendigen Kontaktbeschränkungen sind immer gleich, egal ob wir einen hohen Inzidenzwert auf seinem hohen Niveau oder einen niedrigen Inzidenzwert auf seinem niedrigen Niveau halten wollen – zum Beispiel einen Wert von 300 auf 300 oder einen von zehn auf zehn. Der höhere Inzidenzwert erlaubt keine dauerhaft milderen Kontaktbeschränkungen. Diese Einsicht ist ein Schlüssel zum Verständnis der ostasiatischen Erfolge
in der Corona-Bekämpfung. Deshalb können wir uns mit höheren Inzidenzwerten keine dauerhaft größeren Freiheiten erkaufen, keine wirtschaftlichen Erleichterungen, keine geöffneten Schulen oder Kitas und auch keine geöffneten Restaurants oder Kinos. Umgekehrt aber gilt: Ein höherer Inzidenzwert bedeutet immer mehr Infizierte, mehr schwer Erkrankte, mehr Todesfälle und mehr Leid.
Daher ist der Inzidenzwert eine hochgradig irreführende Größe, die nicht weiter als Orientierungsgröße der Politik verwendet werden sollte. Die weiteren Empfehlungen entsprechen weitgehend der No-Corona-Strategie, die alles andere als weltfremd ist. Konkret heißt das: Zunächst sollte der Inzidenzwert sehr weit gesenkt werden. Ist er einmal niedrig, sollte das Augenmerk auf dem R-Faktor liegen und keinesfalls mehr auf dem Inzidenzwert. Handlungsbedarf besteht immer dann, wenn der R-Faktor über eins steigt, und nicht erst, wenn der Inzidenzwert bestimmte Schwellenwerte erreicht hat. Denn dann ist die Dynamik längst explosiv.
Bereits wenn der R-Faktor über eins steigt, müssen alle Maßnahmen darauf gerichtet sein, ihn wieder unter eins zu drücken. Bleibt der R-Faktor bei niedriger Inzidenz unter eins, kann man auch Kontaktbeschränkungen lockern, aber stets so, dass man zeitnah reagieren kann, sollte der R-Faktor wieder über eins steigen. So und nur so können wir zu einer tragfähigen Strategie gelangen. Auf keinen Fall dürfen wir warten, bis der Inzidenzwert bestimmte Obergrenzen erreicht hat, um uns dann womöglich noch wochenlange Bund-Länder-Abstimmungsprozesse zu leisten.
Die No-CoronaStrategie ist alles andere als weltfremd