Bei Union und SPD steigt die Nervosität
Im Wahljahr kommt der instabile Frieden der Koalition immer mehr ins Wanken. Das liegt nicht nur an der akuten Corona-Krise.
BERLIN Auf den ersten Blick sah es nach Harmonie aus: Der neue CDUChef Armin Laschet brachte Gedichte von Heinrich Heine mit, die SPDChefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans Ingwertee, manch ein Teilnehmer lobte die konstruktive Atmosphäre. Was nach Lagerfeuerrunde klingt, war in Wahrheit der Koalitionsausschuss von vergangener Woche. Nach gerade einmal viereinhalb Stunden hatten sich die Koalitionsspitzen auf Beschlüsse mit Kosten von rund zehn Milliarden Euro verständigt – vom Kinderbonus bis zu Steuerentlastungen für Unternehmen. Sowohl SPD als auch Union konnten das Ergebnis am Ende als Erfolg verbuchen.
Doch die vermeintliche Einigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Koalitionäre nur noch dann verstehen, wenn viel Geld fließt. In weniger als fünf Wochen stehen die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an, vier weitere werden in diesem Jahr folgen. Ende September dann die Bundestagswahl. Im Superwahljahr ist das Geld der letzte Kitt, der das Koalitionsgefüge noch zusammenhält.
Den instabilen Frieden beschwert die Tatsache, dass die Pandemie es den Regierenden unmöglich macht, einen verlässlichen Fahrplan vorzugeben. Nur ein „Auf-Sicht-Fahren“sei möglich, sagte CSU-Chef Markus Söder am Sonntag. Genau diese Ungewissheit nährt den Frust vieler Menschen; existenzielle Nöte und anhaltender Verzicht gehen an die Substanz. Es hängt an den Regierungsspitzen, Wege aus der Krise aufzuzeigen. Das ist ohnehin eine Mammutaufgabe. Im Wahljahr kommen Interessen des eigenen Machterhalts hinzu. Dabei reicht es in diesem speziellen Jahr nicht aus, nur auf die Schwächen der politischen Mitbewerber zu zeigen. Wirklich überzeugend ist nur, wer Lösungsansätze bietet.
Bei Union und SPD steigt die Nervosität. Man merkt es alleine daran, dass immer häufiger betont wird, mitten in der Pandemie sei nicht die Zeit für Wahlkampf. „Die Bundesregierung hat auch in einem Wahljahr im Arbeitsmodus zu bleiben, um die Krise zu bewältigen“, mahnte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) beteuerte am Wochenende, seine Partei erfülle ihre Regierungsarbeit „bis zum letzten Tag“. „Niemals wird diese Aufgabe hinter irgendeiner anderen zurückstehen.“
Aber natürlich bringen sich die Parteien in Stellung. Scholz selbst war es, der am Sonntag eine ökologische Rundumerneuerung des Landes und nicht weniger als eine „technologische Revolution“versprach. „Das ist möglich“, trommelte Scholz. Bei den Grünen gab man sich demonstrativ selbstbewusst. Es sei gut, dass die SPD die ökologische Transformation als „wichtiges Thema“erkannt habe, sagte Partei-Co-Chefin Annalena Baerbock am Montag. „Aber noch besser wäre, wenn man das nicht nur zu Beginn einer Wahlkampagne sehr, sehr deutlich macht.“Auch im zukünftigen Regierungshandeln müssten Öko-Themen „absolute Priorität“haben. Baerbock untermauerte damit zugleich den eigenen Regierungsanspruch.
Aus der Union ist bisher kein vergleichbarer Aufschlag bekannt. Doch die Positionierungen der Mitbewerber bringen auch CDU und CSU in Zugzwang. Solange die Kanzlerkandidatur nicht geklärt ist, kann die Union keinen passgenauen Wahlkampf konzipieren. Und so arbeitet man bisher daran, bei konservativen Kernthemen keinen Boden zu verlieren. Damit lässt sich auch die Empörung nach dem Vorschlag von Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) zum Aussetzen der Schuldenbremse für die nächsten Jahre erklären – man sah das eigene Versprechen finanzpolitischer Solidität in Gefahr. Ob gewollt oder ungewollt – Braun versetzte seinen Parteifreund Laschet in die Lage, sich als Hüter des Konservativen zu präsentieren. Die Schuldenbremse müsse erhalten bleiben, mahnte der NRW-Ministerpräsident an. Auch er weiß, dass das Geld wichtiger Kitt ist – nicht nur für den Zusammenhalt innerhalb der Koalition.