Vor den Toren
Die Lage für Flüchtlinge an der EU-Außengrenze stellt Europas Werte infrage. Doch die Migrationspolitik scheint so verfahren, dass ein unheilvoller Gewöhnungseffekt einsetzt.
Sie nennen es sarkastisch „Game“– den Versuch, aus Bosnien über die Grenze in die EU zu gelangen. Doch in diesem Spiel geht es um ihr Leben. Die Chance für Flüchtlinge, unbemerkt nach Kroatien zu kommen, ist gering, denn das Land hat die Kontrollen extrem verschärft. Und so hausen die Geflüchteten aus Pakistan, Afghanistan und anderen Ländern in selbstgebauten Plastikzelten bei bitterer Kälte im bosnischen Wald und sind auf die Hilfe von Freiwilligen
angewiesen. Die versorgen sie teils heimlich mit dem Nötigsten – ein trockenes Bett oder eine warme Dusche gehören nicht dazu.
Ähnlich erschütternd sind die Zustände weiterhin auf der griechischen Insel Lesbos, wo Tausende Familien nach dem Brand des Lagers Moria noch immer in provisorischen Zelten leben – direkt am Meer, über das die Winterstürme peitschen. Die EU setzt an ihrer Außengrenze auf Abschreckung. Anders ist nicht mehr zu erklären, warum die katastrophalen Zustände nicht längst verbessert wurden. Stattdessen gibt es immer neue Berichte über die beschämenden Verhältnisse – ohne Konsequenzen. Und so setzt bei denen, die in Europa leben und gerade aus guten Gründen mit Corona beschäftigt sind, etwas ein, das vielleicht der größte Feind der Humanität ist: Gewöhnung an die Unmenschlichkeit.
Natürlich hat das auch mit Ohnmacht zu tun. Die Migrationspolitik innerhalb der Europäischen
Union ist so festgefahren, dass es immer schwerer fällt, noch auf einen Durchbruch zu hoffen. Im Herbst hatte die EU-Kommission einen Versuch unternommen, doch noch einen Migrationspakt mit allen Mitgliedstaaten zu schließen. Der sieht unter anderem Schnellverfahren in Aufnahmezentren an den Außengrenzen vor und enthält die Idee, dass Länder wie Ungarn, die die Aufnahme Geflüchteter verweigern, in einer Art Kuhhandel die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber übernehmen sollten. Doch selbst dazu sind sie nicht bereit.
„Die schrecklichen Berichte aus den Camps an der EU-Außengrenze werden von vielen Menschen als Scheitern verstanden“, sagt Migrationsexperte Gerald Knaus, einer der Vordenker des EU-Türkei-Abkommens von 2016. Darum werde wohlmeinend darüber diskutiert, wie die Zustände akut verbessert werden könnten. „In Wirklichkeit sehen wir in diesen Lagern aber kein Scheitern, sondern die bewusste Anwendung einer Politik, die auf Abschreckung setzt“, sagt Knaus. Man sorge für derart schlimme Zustände, dass Migranten es vorzögen, nicht mehr in die EU zu kommen. Das sei Migrationspolitik à la Trump.
Tatsächlich werde dadurch Migration reduziert – um den Preis der Brutalität und der Missachtung von Menschenrechten. „Das ist in der EU aber illegal“, sagt Knaus. Wenn also Griechenland, Kroatien oder Ungarn Flüchtlinge an der Grenze zurückstoße, ob auf dem Wasser oder an Land, brächen diese Länder EU-Recht. „Das muss endlich sanktioniert werden“, sagt Knaus, „denn da geht es an unsere Grundwerte.“
Abschreckung wirkt zudem nicht nur in Richtung von Migranten, sondern auch ins Innere der EU. Die Bilder vom Elend lösen ja nicht nur Mitleid aus, sondern zeigen Flucht als gesetzlosen Zustand. „Wenn Menschen nach Europa fliehen, sorgt das angeblich für Chaos und Unsicherheit“, sagt Sascha Schießl vom Flüchtlingsrat Niedersachsen. „Die Verhältnisse in den Lagern haben aber nicht die Menschen verursacht, die dort eingesperrt sind, sondern die Politik der EU.“
Knapp 95.000 Geflüchtete sind 2020 laut UNHCR über das Mittelmeer in die EU gekommen. Ein Jahr zuvor waren es 123.700. Während in den vergangenen Jahren Syrien und Afghanistan die Hauptherkunftsländer waren, kamen zuletzt die meisten Menschen aus Nordafrika: etwa jeder Fünfte aus Tunesien, 14 Prozent aus Algerien, acht Prozent aus Marokko. Um an den Grenzen dauerhaft zu einem humanitären Umgang zu finden und das Massensterben im Meer zu beenden, schlägt Knaus ein Dreieck vor: genügend qualifiziertes Personal für schnelle Asylverfahren in Zentren an der Grenze, realistische Rückführungsabkommen mit Stichtagen, dazu mehr Umsiedlung und Hilfe für Flüchtlinge in Erstaufnahmeländern.
Dafür bräuchte es laut Knaus dringend eine erneuerte EU-Türkei-Erklärung und Abkommen mit Ländern wie Tunesien. Diesen sollte als Anreiz Visa-Liberalisierung angeboten werden, wie sie die Ukraine 2017 erhielt. „Nichts davon ist utopisch“, sagt Knaus, „aber daran arbeitet niemand in der EU mit der nötigen Ernsthaftigkeit.”
Flüchtlingsorganisationen fordern dagegen, Menschen überhaupt nicht mehr an den Grenzen festzuhalten, sondern ihnen faire Verfahren innerhalb der EU zu ermöglichen, wie es das Asylrecht vorsieht – und zwar verteilt auf alle Staaten. Darum lehnt etwa Schießl Schnellverfahren an den Grenzen ab. „Die EU will den Zugang zum Asylsystem beschränken. Immer weniger Geflüchtete sollen überhaupt die Möglichkeit haben, Asyl zu beantragen. Dafür soll in geschlossenen Lagern an den Außengrenzen so getan werden, als seien die Menschen noch gar nicht eingereist. Nur mit dieser juristischen Fiktion kann man sie nämlich mit Schnellverfahren abfertigen“, sagt Schießl. Um festzustellen, ob ein Menschen traumatisiert ist und Schutz benötigt, brauche man aber Zeit.
Schießl plädiert dafür, in der Flüchtlingsdebatte zu unterscheiden zwischen Sicherheitspolitik und allen Fragen, die den Umgang mit Geflüchteten betreffen. „Dann würde wieder in den Fokus rücken, worum es eigentlich gehen sollte, nämlich um Menschenrechte und die Rechte von Geflüchteten.“Die Auseinandersetzungen über die Absicherung der Grenzen erklärten notleidende Menschen zum Sicherheitsproblem. „Viele können sich schon gar keine EU mehr vorstellen ohne Lager und Stacheldraht an den Grenzen, das ist fatal“, sagt Schießl.
Eine Mehrheit der Deutschen zeigt weiter Empathie mit den Menschen, die an den Grenzen festsitzen. Nach dem Brand im Lager Moria auf Lesbos sprachen sich 43 Prozent in einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen uneingeschränkt dafür aus, Menschen von dort aufzunehmen; weitere 46 Prozent waren dafür, wenn auch andere EU-Staaten aufnehmen, neun Prozent dagegen. „Die Gesellschaft sollte sich nicht der Ohnmacht hingeben, sondern laut fordern, dass sich endlich etwas bewegt“, sagt Schießl. „Wir dürfen die Asylpolitik nicht den Regierungen überlassen, sonst bedeutet es für die Menschen vor Ort eine Fortsetzung ihres Elends.“