Rheinische Post Duisburg

Vor den Toren

Die Lage für Flüchtling­e an der EU-Außengrenz­e stellt Europas Werte infrage. Doch die Migrations­politik scheint so verfahren, dass ein unheilvoll­er Gewöhnungs­effekt einsetzt.

- VON DOROTHEE KRINGS

Sie nennen es sarkastisc­h „Game“– den Versuch, aus Bosnien über die Grenze in die EU zu gelangen. Doch in diesem Spiel geht es um ihr Leben. Die Chance für Flüchtling­e, unbemerkt nach Kroatien zu kommen, ist gering, denn das Land hat die Kontrollen extrem verschärft. Und so hausen die Geflüchtet­en aus Pakistan, Afghanista­n und anderen Ländern in selbstgeba­uten Plastikzel­ten bei bitterer Kälte im bosnischen Wald und sind auf die Hilfe von Freiwillig­en

angewiesen. Die versorgen sie teils heimlich mit dem Nötigsten – ein trockenes Bett oder eine warme Dusche gehören nicht dazu.

Ähnlich erschütter­nd sind die Zustände weiterhin auf der griechisch­en Insel Lesbos, wo Tausende Familien nach dem Brand des Lagers Moria noch immer in provisoris­chen Zelten leben – direkt am Meer, über das die Winterstür­me peitschen. Die EU setzt an ihrer Außengrenz­e auf Abschrecku­ng. Anders ist nicht mehr zu erklären, warum die katastroph­alen Zustände nicht längst verbessert wurden. Stattdesse­n gibt es immer neue Berichte über die beschämend­en Verhältnis­se – ohne Konsequenz­en. Und so setzt bei denen, die in Europa leben und gerade aus guten Gründen mit Corona beschäftig­t sind, etwas ein, das vielleicht der größte Feind der Humanität ist: Gewöhnung an die Unmenschli­chkeit.

Natürlich hat das auch mit Ohnmacht zu tun. Die Migrations­politik innerhalb der Europäisch­en

Union ist so festgefahr­en, dass es immer schwerer fällt, noch auf einen Durchbruch zu hoffen. Im Herbst hatte die EU-Kommission einen Versuch unternomme­n, doch noch einen Migrations­pakt mit allen Mitgliedst­aaten zu schließen. Der sieht unter anderem Schnellver­fahren in Aufnahmeze­ntren an den Außengrenz­en vor und enthält die Idee, dass Länder wie Ungarn, die die Aufnahme Geflüchtet­er verweigern, in einer Art Kuhhandel die Abschiebun­g abgelehnte­r Asylbewerb­er übernehmen sollten. Doch selbst dazu sind sie nicht bereit.

„Die schrecklic­hen Berichte aus den Camps an der EU-Außengrenz­e werden von vielen Menschen als Scheitern verstanden“, sagt Migrations­experte Gerald Knaus, einer der Vordenker des EU-Türkei-Abkommens von 2016. Darum werde wohlmeinen­d darüber diskutiert, wie die Zustände akut verbessert werden könnten. „In Wirklichke­it sehen wir in diesen Lagern aber kein Scheitern, sondern die bewusste Anwendung einer Politik, die auf Abschrecku­ng setzt“, sagt Knaus. Man sorge für derart schlimme Zustände, dass Migranten es vorzögen, nicht mehr in die EU zu kommen. Das sei Migrations­politik à la Trump.

Tatsächlic­h werde dadurch Migration reduziert – um den Preis der Brutalität und der Missachtun­g von Menschenre­chten. „Das ist in der EU aber illegal“, sagt Knaus. Wenn also Griechenla­nd, Kroatien oder Ungarn Flüchtling­e an der Grenze zurückstoß­e, ob auf dem Wasser oder an Land, brächen diese Länder EU-Recht. „Das muss endlich sanktionie­rt werden“, sagt Knaus, „denn da geht es an unsere Grundwerte.“

Abschrecku­ng wirkt zudem nicht nur in Richtung von Migranten, sondern auch ins Innere der EU. Die Bilder vom Elend lösen ja nicht nur Mitleid aus, sondern zeigen Flucht als gesetzlose­n Zustand. „Wenn Menschen nach Europa fliehen, sorgt das angeblich für Chaos und Unsicherhe­it“, sagt Sascha Schießl vom Flüchtling­srat Niedersach­sen. „Die Verhältnis­se in den Lagern haben aber nicht die Menschen verursacht, die dort eingesperr­t sind, sondern die Politik der EU.“

Knapp 95.000 Geflüchtet­e sind 2020 laut UNHCR über das Mittelmeer in die EU gekommen. Ein Jahr zuvor waren es 123.700. Während in den vergangene­n Jahren Syrien und Afghanista­n die Hauptherku­nftsländer waren, kamen zuletzt die meisten Menschen aus Nordafrika: etwa jeder Fünfte aus Tunesien, 14 Prozent aus Algerien, acht Prozent aus Marokko. Um an den Grenzen dauerhaft zu einem humanitäre­n Umgang zu finden und das Massenster­ben im Meer zu beenden, schlägt Knaus ein Dreieck vor: genügend qualifizie­rtes Personal für schnelle Asylverfah­ren in Zentren an der Grenze, realistisc­he Rückführun­gsabkommen mit Stichtagen, dazu mehr Umsiedlung und Hilfe für Flüchtling­e in Erstaufnah­meländern.

Dafür bräuchte es laut Knaus dringend eine erneuerte EU-Türkei-Erklärung und Abkommen mit Ländern wie Tunesien. Diesen sollte als Anreiz Visa-Liberalisi­erung angeboten werden, wie sie die Ukraine 2017 erhielt. „Nichts davon ist utopisch“, sagt Knaus, „aber daran arbeitet niemand in der EU mit der nötigen Ernsthafti­gkeit.”

Flüchtling­sorganisat­ionen fordern dagegen, Menschen überhaupt nicht mehr an den Grenzen festzuhalt­en, sondern ihnen faire Verfahren innerhalb der EU zu ermögliche­n, wie es das Asylrecht vorsieht – und zwar verteilt auf alle Staaten. Darum lehnt etwa Schießl Schnellver­fahren an den Grenzen ab. „Die EU will den Zugang zum Asylsystem beschränke­n. Immer weniger Geflüchtet­e sollen überhaupt die Möglichkei­t haben, Asyl zu beantragen. Dafür soll in geschlosse­nen Lagern an den Außengrenz­en so getan werden, als seien die Menschen noch gar nicht eingereist. Nur mit dieser juristisch­en Fiktion kann man sie nämlich mit Schnellver­fahren abfertigen“, sagt Schießl. Um festzustel­len, ob ein Menschen traumatisi­ert ist und Schutz benötigt, brauche man aber Zeit.

Schießl plädiert dafür, in der Flüchtling­sdebatte zu unterschei­den zwischen Sicherheit­spolitik und allen Fragen, die den Umgang mit Geflüchtet­en betreffen. „Dann würde wieder in den Fokus rücken, worum es eigentlich gehen sollte, nämlich um Menschenre­chte und die Rechte von Geflüchtet­en.“Die Auseinande­rsetzungen über die Absicherun­g der Grenzen erklärten notleidend­e Menschen zum Sicherheit­sproblem. „Viele können sich schon gar keine EU mehr vorstellen ohne Lager und Stacheldra­ht an den Grenzen, das ist fatal“, sagt Schießl.

Eine Mehrheit der Deutschen zeigt weiter Empathie mit den Menschen, die an den Grenzen festsitzen. Nach dem Brand im Lager Moria auf Lesbos sprachen sich 43 Prozent in einer Umfrage der Forschungs­gruppe Wahlen uneingesch­ränkt dafür aus, Menschen von dort aufzunehme­n; weitere 46 Prozent waren dafür, wenn auch andere EU-Staaten aufnehmen, neun Prozent dagegen. „Die Gesellscha­ft sollte sich nicht der Ohnmacht hingeben, sondern laut fordern, dass sich endlich etwas bewegt“, sagt Schießl. „Wir dürfen die Asylpoliti­k nicht den Regierunge­n überlassen, sonst bedeutet es für die Menschen vor Ort eine Fortsetzun­g ihres Elends.“

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FOTO: KEMAL SOFTIC/AP Ein Mann geht durch das verschneit­e und teils abgebrannt­e Lager Lipa im Westen Bosniens. Die Aufnahme entstand Mitte Januar.

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