Was ist heute liberal?
Es ist schon erstaunlich, welch unterschiedliche Bedeutungen mit dem Wort „liberal“verbunden sind. In den USA markiert es die eher linken Demokraten, in Deutschland ist es für eine Partei reserviert, die um ihre parlamentarische Existenz kämpft, es gilt als Sammelbezeichnung für den Typus der westlichen Demokratien und steht schließlich für eine Geisteshaltung, die persönliche Autonomie als höchstes Gut ansieht. In Verbindung mit einer griechischen Vorsilbe wird es als Adjektiv „neoliberal“schnell zum abwertenden Kampfbegriff gegen einen schrankenlosen, zerstörerischen Kapitalismus.
Ausgerechnet die Pandemie mit ihren harten Einschränkungen hat das Bewusstsein für den Wert des Liberalen wieder geschärft. In der jüngst veröffentlichten Studie der Bielefelder Historikerin Christina Morina gemeinsam mit der Non-Profit-Organisation „Wir schaffen das“gaben 30 Prozent der Befragten an, sich von den Schutzmaßnahmen in der Corona-Krise in ihren Grundrechten stark beeinträchtigt zu fühlen. 84 Prozent erklärten, eine solche Einschränkung müsse gut begründet und jederzeit hinterfragbar sein. Der Freiheitswille lebt also weiter, und gerade auch jungen Leuten sind die Grundrechte wichtig, auch wenn sie – wie Mitte 2020 in der Jugendstudie des Sinus-Instituts ermittelt – die Notwendigkeit der Beschränkungen weitgehend einsehen.
Welchen Stellenwert hat also die liberale Haltung, ja der Liberalismus als eine der drei großen geistigen Strömungen der letzten beiden Jahrhunderte neben dem Konservatismus und dem Sozialismus? Für Christian Lindner, den Vorsitzenden der liberalen FDP, besteht eine liberale Haltung vor allem in der Ablehnung des Kollektiven: „Denkst du im Kollektiv, oder gehst du vom Individuum aus? Sozialisten (,Klasse’, neuerdings verschoben zu ,sozialer Gerechtigkeit’), Nationalisten (,Volksgemeinschaft’), Ökologen (auch die Natur wird als Kollektivsubjekt gegen den Einzelnen gestellt, wie die Bewegung Extinction Rebellion gezeigt hat) oder Konservative (,Familie’, ,Gemeinde’, ,Staat’) denken im Kollektiv, Liberale im besten Wortsinne individualistisch.“
Es ist interessant, dass die so freiheitsliebenden Jugendlichen den Individualismus eher ablehnen. In der aktuellen Sinus-Studie betrachten viele der Befragten ein solches Denken als eher negativ. Viele beklagen sogar eine „Jeder für sich“-Mentalität. Ein echter Liberaler würde sich auf seine Grundrechte berufen und individuelle Entscheidungsspielräume und private Autonomie einfordern. Die in der Studie herausgefundene Haltung zeigt eine Sehnsucht nach dem Kollektiv, das vor allem die unübersichtlichen Dinge regelt. „Deutschland war nie so eine liberal-individualistische Gesellschaft, wie es die angelsächsischen Länder sind. Hier dominieren mehrheitlich die Kollektivstrukturen“, findet auch FDP-Chef Lindner, der darin auch einen Grund für die mangelnde Unterstützung seiner Partei erkennen könnte.
Der frühere Verfassungsrichter und Bonner Rechtsprofessor Udo Di Fabio lobt hingegen die Stärke der liberalen Gesellschaften – einschließlich Deutschlands. „Die Serie von Lockdowns quer durch Europa zeigt, was man liberalen Gesellschaften zumuten kann, wie robust sie eigentlich sind“, schreibt er in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Der Staat habe in der Pandemie „erheblich an Statur gewonnen“. Das könnte eine neue Staatsgläubigkeit befördern, einen „Neo-Etatismus“, weil diese Handlungsfähigkeit sich nun auch auf andere Felder wie Klimaschutz, eine faire Wirtschaft oder die Besserstellung von Minderheiten erstrecken könnte. Di Fabio fürchtet bereits, dass die offene Gesellschaft durch Planvorgaben gelenkt wird und dabei das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Autonomie von Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst „auf einer Welle öffentlicher Moralkommunikation politisch vergemeinschaftet werden“. Also ein ambivalentes Urteil. Hier befürchtet ein Verfassungsrechtler eine schleichende Aushöhlung des individuellen Handelns, das Grundlage für alle echten Liberalen ist.
Der Gegenentwurf ist zweifelsfrei auch heute noch das Leitbild unserer Gesellschaft. Der Staat hat als primäre Aufgabe, die individuelle Freiheit zu schützen – sowohl durch Gewaltenteilung als auch durch gleiche Teilhaberechte der Bürger. So steht es im „Politik“-Band des Brockhaus. Übertragen auf den Einzelnen heißt das: Der Mensch übernimmt die Verantwortung für sich selbst und als gleichberechtigtes Elternteil auch für die Familie. Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, eine streitbare Liberale, formuliert es so: „Richtschnur des liberalen Handelns ist die Vernunft des Einzelnen gepaart mit dem gesunden Menschenverstand. Das muss immer Priorität haben.“