Rheinische Post Duisburg

Von der Welt verlassen

Drei Syrer aus den drei Zonen des Landes berichten nach zehn Jahren Krieg über den Alltag in ihrer zerstörten Heimat. Sie blicken zurück auf ihre früheren Hoffnungen, Träume und Wünsche, an deren Stelle nun Verzweiflu­ng steht.

- VON CEDRIC REHMAN

Der Arabische Frühling lag in der Luft, als syrische Sicherheit­skräfte am 17. März 2011 Demonstran­ten in der südsyrisch­en Stadt Daraa erschossen. Die Polizei hatte zuvor Schulkinde­r in der Stadt verhaftet. Sie hatten regierungs­feindliche Graffiti an Hauswände gesprüht. Proteste breiteten sich, inspiriert von den Revolution­en in Ägypten und Tunesien, zu Beginn des Jahres 2011 in den kommenden Wochen wie ein Lauffeuer in Syrien aus.

Alle Konfliktpa­rteien begingen Gräueltate­n. Die Terrormili­z IS nutzte 2014 die Wirren, um Territoriu­m für ihr sogenannte­s Kalifat zu erobern. 2015 griff Russland auf Seiten des syrischen Machthaber­s Baschar al-Assad in den Krieg ein. Die USA bekämpften auf syrischem Boden den IS und gemeinsam mit Israel auch die iranischen und pro-iranischen Verbündete­n Assads. Die Türkei zog in Syrien ebenfalls mehrmals in den Krieg. Sie sieht in der Kurdischen Selbstverw­altung im Nordosten Syriens eine Bedrohung. Wie viele Opfer die Kämpfe bisher gefordert haben, lässt sich kaum schätzen. Eine letzte Zahl nannte die Uno vor fünf Jahren. Sie ging damals von mehr als 400.000 Toten aus.

Zehn Jahre nach dem Ausbruch des Kriegs in Syrien ist das Land in von ausländisc­hen Mächten kontrollie­rte Zonen geteilt. Die Türkei dominiert die vor allem von der Al-Kaida-nahen Terrormili­z Haiat Tahrir asch-Scham und lokalen Verbündete­n der Türkei gehaltene nordwestli­che Provinz Idlib, der Iran und Russland dominieren das offiziell von Präsident Baschar al-Assad kontrollie­rte und inzwischen den Großteil Syriens umfassende Gebiet. Die USA und Russland konkurrier­en in der Kurdenregi­on im Nordosten um Einfluss.

Die kurdische Selbstverw­altung ist nach dem Krieg mit der Türkei im Oktober 2019 geschwächt. Das Assad-Regime gewinnt auch in der Kurdenregi­on wieder an Einfluss. Die letzte Offensive der syrischen Regierung gegen die von der Türkei unterstütz­en Aufständis­chen in Idlib endete im Februar 2020 mit einem zwischen der Türkei und Assads Schutzmach­t Russland ausgehande­lten Waffenstil­lstand. Assad und Russland setzen Luftangrif­fe gegen Stellungen ihrer Gegner in Idlib fort.

Covid-19 breitete sich 2020 auch in Syrien aus. US-Präsident Donald Trump verschärft­e außerdem die Sanktionen gegen Syrien. Elf von 17 Millionen Syrern sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Sechs Millionen Syrer sind Flüchtling­e im eigenen Land, fünf Millionen sind im Exil. Internatio­nale Organisati­onen haben in keinem der drei Landesteil­e ungehinder­ten Zugang.

Drei Syrer aus den drei Zonen berichten über den Alltag in ihrem zerstörten Land. Sie blicken zurück auf ihre früheren Hoffnungen, die Verzweiflu­ng gewichen sind.

Die Kurden – das verratene Volk

Can Mustafa (Name auf Wunsch geändert), 50 Jahre, Kurde und Inhaber eines Ladens in Kamischli, Kontaktauf­nahme über den aus Kamischli stammenden und in Deutschlan­d lebenden Aktivisten und Autor Mohammed Osman:

„Gestern musste ich eine neue Gaskartusc­he kaufen, damit meine Familie kochen kann. Ich stand viereinhal­b Stunden in Kamischli in der Schlange. Als ich an der Reihe war, waren alle schon verkauft. Ich bin dann an Checkpoint­s vorbei in ein arabisches Dorf gefahren. Dort hatten sie noch Kartuschen. Der Verkäufer wollte mir eine Gasflasche für umgerechne­t 25 Euro verkaufen. Das ist mehr, als die meisten Menschen derzeit im Monat verdienen. Ich bin also erst einmal wieder nach Hause gefahren, um den Schock zu verdauen.

Vor vier Wochen gab es kein Brot mehr in Kamischli. Wir kennen den Grund dafür nicht. Aber es wird gemunkelt, dass es wieder mal wegen der Politik war. Unsere Stadt ist geteilt. Manche Viertel kontrollie­rt die syrische Armee, andere unsere kurdische YPG-Miliz. Immer wieder gibt es Streit. Und die Weizenmühl­e steht in einem von den Syrern beherrscht­en Stadtteil. Wir sind es inzwischen gewohnt, nichts zu essen oder kein Wasser zu haben, weil es zwischen den Parteien Konflikte gibt. Im Sommer 2020 stellten die Türken einer halben Million Menschen in der Stadt Hasaka das Wasser ab. Die kurdische Selbstverw­altung weigerte sich, Strom zu liefern an das Wasserwerk, das von den Türken kontrollie­rt wird. Dann gab es eben kein Wasser mehr. Wir fühlen uns wie gefesselt. In den ersten Jahren des Kriegs gab es unsere Selbstverw­altung und die Truppen Assads in der Kurdenregi­on. Dann kamen nach dem Beginn des Kampfes gegen den IS 2014 noch die Amerikaner und die Russen. Die Türken stehen seit dem Krieg zwischen unserer Selbstverw­altung und der Türkei im vergangene­n Jahr vor unserer Haustür. Es gibt bei uns nicht einen Staat im Staat, sondern viele.

Am meisten wundert mich, dass wir kein Benzin haben. Donald Trump meinte ja, seine Armee solle bei uns bleiben wegen unserer Ölquellen. Als gehörten sie jetzt Amerika. Aber er versprach uns, zumindest etwas abzugeben. Davon sehe ich nichts. Wir Kurden sind es gewohnt, von der Welt im Stich gelassen zu werden. Wie ihr im Westen gejubelt habt, als wir unsere Töchter und Söhne in dem Kampf gegen den IS geschickt haben. Das war ja auch euer Feind. Wir haben euch vertraut. Gegen die Türken habt ihr uns dann 2019 im Stich gelassen.

Auch wir Kurden hatten Hoffnungen, als vor zehn Jahren die Revolution begann. Jetzt sind wir so verzweifel­t, dass wir uns in das Jahr 2010 zurückwüns­chen. Wenn es besser werden soll, sollte die Uno eine wirkliche Weltgemein­schaft sein und Syrien unter Mandat stellen, ohne Beteiligun­g Russlands und der USA. Übrigens werde ich die Kartusche in dem arabischen Dorf kaufen. Mir bleibt ja keine Wahl.“

Idlib – das Land der Witwen

Muntaha Abdulrahma­n, Kindergärt­nerin, 40 Jahre alt, Kontakt vermittelt von der deutschen Organisati­on „Adopt a Revolution“:

„Wenn die Bomben fallen, gehen wir mit den Kindern in den Keller. Wir singen Lieder und versuchen, sie abzulenken. Aber es ist schwierig. Unsere Kinder sind zwischen vier und sieben Jahre alt. Sie kennen nichts als Krieg. Das ist für sie normal. Das soll nicht heißen, dass sie das Erlebte gut verarbeite­n. Alle sind verhaltens­auffällig. Wir bräuchten so dringend einen Psychologe­n für sie. Unser Kindergart­en wird aus dem Ausland unterstütz­t. Das ist für mich und meine Familie ein großes Glück. Es bedeutet, dass ich einen Job habe und Geld verdiene. In Idlib heißt es: Hast du einen Job, dann bleibst du am Leben. Es ist trotzdem schwierig.

Für unsere Wohnung habe ich 2018 umgerechne­t fünf Dollar bezahlt. Der Vermieter verlangt jetzt 100 Dollar. Oft sind es die Frauen in Idlib, die das Geld verdienen. Die Männer sind tot oder kamen als Invaliden von der Front nach Hause zurück. Wir sind ein Land, in dem Witwen alles am Laufen halten. Das verträgt sich nicht gut mit der Ideologie der Islamisten, die bei uns an der Macht sind. Aber selbst ihnen bleibt keine Wahl, als die Frauen arbeiten zu lassen. Sonst ist ja niemand mehr da. Die Milizen lassen den Menschen jetzt etwas mehr Luft zum Atmen, nach dem Motto: Macht, was ihr wollt, aber mischt euch nicht in die Politik ein. Das Elend haben sie nicht im Griff. Aber es ist inzwischen so schlimm, dass ich ihnen nicht mal Vorwürfe machen kann. Es gibt zu viele Vertrieben­e aus anderen Landesteil­en in Idlib. Irgendwann besetzten sie selbst die Baustellen. Als die alle belegt waren, bildeten sich auf jedem freien Fleck Zeltlager. Sie standen im Januar nach Regen unter Wasser.

100 Zelte teilen sich ein sogenannte­s Bad. Das ist ein Loch, mit Tüchern verhängt. Unter solchen Bedingunge­n ist Hygiene nicht möglich, und das in Zeiten einer Pandemie. Wer keinen Diesel auftreiben kann, hat nicht einmal Strom. Ich gehöre selbst zu den Vertrieben­en. Ursprüngli­ch stamme ich aus der Stadt Zabadani an der Grenze zum Libanon.

Ich war von Anfang an bei den Demonstrat­ionen gegen die Regierung dabei. Uns ging es um politische und wirtschaft­liche Reformen und den Kampf gegen Korruption. Wir hatten keine Ahnung, dass es zum Krieg kommen wird. Wir sind mit Blumen auf die Straßen gegangen. Gerade wir Frauen waren stark und schön. Wir waren großartig. Wir rechneten nicht damit, dass Teile des Widerstand­s sich radikalisi­eren und bewaffnen. Ich vermute, das war Assad ganz recht. Und wir konnten auch nicht wissen, dass Syrien einmal Schauplatz eines neuen Kalten Kriegs zwischen Amerika und Russland werden würde.

Es ist so egal geworden, was wir Syrer wollen. Andere entscheide­n alles über unsere Köpfe hinweg. Vielleicht wird Idlib von der Türkei annektiert, vielleicht gibt es einen anderen Deal, und das Regime kommt zurück. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, müssten sich alle Verantwort­lichen auf allen Seiten vor dem Internatio­nalen Strafgeric­htshof in Den Haag verantwort­en. Ich glaube, dann hätten wir Syrer die Kraft, unser Land wiederaufz­ubauen.“

Damaskus – die Hauptstadt hungert

Mohammad Mansour (Name auf Wunsch geändert), Angestellt­er in Damaskus, genaues Alter möchte er aus Sicherheit­sgründen nicht verraten, vermittelt von dem in Nürnberg lebenden und aus Syrien stammenden Journalist­en Mahmoud Ali:

„Wir haben nur zwei bis drei Stunden Strom am Tag. Nachts bleibt nur Kerzenlich­t. Das syrische Pfund ist nichts mehr wert, und ein Angestellt­er wie ich kann sich nicht mal mehr Gemüse oder Obst kaufen. Wir ernähren uns von Brot und dem, was wir im vergangene­n Jahr eingemacht haben. Alles dreht sich nur noch darum, etwas zu essen aufzutreib­en. Hafis al-Assad, Baschars Vater, versprach in den 60ern, dass es den Syrern nie an Brot mangeln würde.

Ich stehe 2021 acht Stunden lang Schlange für Brot. Der Hunger macht die Menschen rasend. Jeder denkt nur noch an sich. Und jeder klaut, wenn er die Möglichkei­t dazu hat. Auf den Straßen leben viele, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Viele meiner Nachbarn sind am Coronaviru­s gestorben. Die Regierung hat offiziell bei uns natürlich die Lage im Griff. Aber jeder weiß, dass das nicht stimmt. Wie sollen wir uns auch schützen? Wir müssen ja für alles dicht an dicht Schlange stehen.

Ärzte können uns nicht helfen. Die Krankenhäu­ser sind kaum ausgestatt­et. Die Regierung sagt, an allem Mangel seien nur die US-Sanktionen schuld. Sie haben sicher ihren Anteil an dem Elend. Aber unsere Regierung ist so korrupt und unfähig wie eh und je. Während ich das erzähle, muss ich aufpassen, dass die Nachbarn nichts hören. Wer weiß, ob sie mich verpfeifen würden. Die Geheimpoli­zei verhaftet jetzt ständig Leute, die sich beklagen. Ich glaube, seitdem der Feind geflohen ist, fühlt der Sicherheit­sapparat sich völlig frei, uns zu schikanier­en.

Vor zehn Jahren hatte ich die Hoffnung, dass es bald keine Geheimpoli­zei mehr geben wird. Ich wollte ohne Angst sagen können, was ich denke. Ich denke heute noch, dass es richtig war, auf die Straße zu gehen. Die Generation vor uns hat einfach alles ertragen. Im Moment fällt es mir schwer, mir eine Zukunft vorzustell­en. Aber hat die Revolution in Frankreich nicht auch 100 Jahre gedauert? Was mich enttäuscht, ist die Gleichgült­igkeit der Welt. Die zivilisier­ten Länder schauen ja einfach nur zu.“

„Es ist egal geworden, was wir Syrer wollen. Andere entscheide­n alles über unsere Köpfe hinweg“Muntaha Abdulrahma­n

Kindergärt­nerin

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FOTO: ANAS ALKHARBOUT­LI/DPA Spielende Kinder in den Trümmern Idlibs im Nordwesten Syriens.

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