Rheinische Post Duisburg

„Kirche muss sich auf Seite der Opfer stellen“

Der neue Präses der Evangelisc­hen Kirche im Rheinland über Missbrauch­s-Aufarbeitu­ng, Ökumene und das Prinzip Hoffnung.

- JULIA RATHCKE UND HORST THOREN FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Herr Latzel, Sie starten in nicht ganz einfachen Zeiten für die Kirche – in Köln reichen die Termine für die Kirchenaus­tritte für Katholiken kaum noch. Hintergrun­d sind wohl vor allem die Missbrauch­sskandale und der Umgang damit. Wie begegnet die evangelisc­he Kirche der wachsenden Skepsis an den Institutio­nen?

LATZEL Das sind für mich zwei Themen. Zum schweren Thema sexueller Gewalt: Das ist ein beschämend­es Thema für die Kirchen, besonders, weil es hier um Institutio­nen geht, die für die Sorge um die Seele zuständig sind. Ausgerechn­et dort haben einzelne Personen Gewalt ausgeübt und eben kein schützende­s Umfeld geboten. Sexuelle Gewalt gibt es in allen gesellscha­ftlichen Bereichen, aber gerade für die Kirchen ist das eine schwere Last und es bleibt nur eines: Uns als Kirche eindeutig auf die Seite der Opfer stellen.

Was bedeutet das konkret?

LATZEL Es gibt seit 2003 ein festes Verfahren, wie mit solchen Fällen umzugehen ist, das schließt ganz klar den Bereich Prävention mit ein. Zurzeit werden alle Mitarbeite­nden dazu geschult. Seit dem 1. Januar 2021 muss zudem jeder bei der Einstellun­g ein erweiterte­s Führungsze­ugnis vorlegen und dies alle fünf Jahre erneut tun. Außerdem gibt es auch eine Meldepflic­ht bei Verdachtsf­ällen an eine Meldestell­e, die übrigens auch abseits der strafrecht­lichen Verjährung­sfristen sich dieser Fälle annimmt.

Ist denn – wie bei der Katholisch­en Kirche – geplant, ein externes Gutachten zu dem Thema in Auftrag zu geben und zu veröffentl­ichen? LATZEL Die dezentrale Aufstellun­g der Evangelisc­hen Kirche macht das grundsätzl­ich etwas schwierige­r, es gibt unterschie­dliche Zuständigk­eiten, viele Betroffene sind bereits verstorben. Die im Juni 2020 einstimmig beschlosse­ne, breit angelegte Aufarbeitu­ngsstudie zu sexualisie­rter Gewalt in der EKD, die von einem unabhängig­en Forscherte­am durchgefüh­rt wird, wird hoffentlic­h mehr Licht ins Dunkle bringen.

Lässt sich sagen, um welche Größenordn­ung es bei der Evangelisc­hen Kirche gehen könnte?

LATZEL Belastbar kann ich keine Zahlen nennen, da es auch darum geht, differenzi­ert zu klären: Wie viele Betroffene sind es, wie viele Beschuldig­te? Geht es nur um Pfarrerinn­en und Pfarrer oder auch um privatrech­tlich Beschäftig­te und

Ehrenamtli­che? Über welchen Zeitraum sprechen wir? Was ich sagen kann, ist, wie viele Disziplina­rverfahren die Evangelisc­he Kirche im Rheinland durchgefüh­rt hat: Seit 2011 hat es 17 Verfahren gegeben. In 21 Fällen hat die Unabhängig­e Kommission Anerkennun­gsleistung­en an Betroffene gezahlt. Das sagt nichts über das Graufeld aus, das gerade untersucht wird. Insgesamt geht die EKD bundesweit von 850

Fällen seit 1950 aus – in allen Berufsfeld­ern der Evangelisc­hen Kirche.

Wie gehen Sie mit der grundsätzl­ichen Skepsis der Menschen gegenüber der Institutio­n um?

LATZEL Das Verhältnis hat sich tatsächlic­h verändert: Wir werden nicht mehr automatisc­h gehört, bloß weil wir als Institutio­n Kirche sprechen. Wir müssen an der Plausibili­tät, der Überzeugun­gskraft arbeiten. Wir müssen uns fragen: Was können wir tun, um Menschen in ihrem Glauben zu stärken, wie können wir mit den Menschen in Kontakt treten und bleiben, die nicht mehr sonntags um zehn in den Gottesdien­st kommen?

Sie sagen, die Generation der 20bis 40-Jährigen spielt eine Schlüsselr­olle für die Zukunft der Kirche und soll stärker in den Blick genommen werden. Wie denn?

LATZEL Ich glaube, wir müssen unsere jungen Christinne­n und Christen selbst befragen, zu ihnen kommen: Was ist Ihnen wichtig, in Ihrem Leben, an Ihrem Christsein, und wie können wir als Kirche dazu beitragen? Dann sollten wir diese Kontakte auch pflegen, Ereignisse wie Taufen, Hochzeiten, Trauerfeie­rn zum Anlass nehmen, immer wieder Angebote zu machen.

Korrespond­iert das mit ihrem Bild vom „freien Glauben“, zu dem Sie sich bei der Wahl zum Präses bekannt haben?

LATZEL Der Glaube respektier­t immer die Freiheit jedes Einzelnen. Es kann viele verschiede­ne Art und Weisen geben, den Glauben zu leben. Als Kirche wollen wir die Menschen in ihren persönlich­en Lebenswege­n stärken.

Was ist noch auf Ihrer Agenda, was ist Ihnen noch wichtig?

LATZEL Hoffnung ist ein großes Thema. Klimawande­l, Corona-Pandemie, vielfältig­e Krisen – was gibt uns eigentlich innerlich Halt? Wir wollen Hoffnungsp­erspektive­n geben, nicht nur platten Optimismus verbreiten. Für mich als Christen ist Gott Grund der Hoffnung. Und das hat Folgen für viele Fragen: Wie sieht die Welt nach Corona aus, wie wollen wir leben, was wollen wir ändern – unser Konsumverh­alten, unsere Haltung zur Ökologie, unsere Verantwort­ung für andere?

Das sind Zukunftsfr­agen, mit denen sie auch an Ihre bisherige Tätigkeite­n als Direktor des Evangelisc­hen Akademie in Frankfurt und als Leiter des Reformbüro­s der EKD anschließe­n.

LATZEL Auf jeden Fall, wir leben in einer Zeit tiefgreife­nden Wandels, in der wir merken, wir werden nicht so weitermach­en können wie bisher. Da wollen wir ansetzen, mitgestalt­en, dabei niemanden zurücklass­en.

Ein Krisenthem­a ist auch die Debatte um den begleitete­n Suizid, wie ist da Ihre Position?

LATZEL Es ist gut, dass wir diese Diskussion führen und sensibel wahrnehmen: Was brauchen Menschen am Ende ihres Lebens? Der assistiert­e Suizid ist nur eine Möglichkei­t, die wir als Kirche aber nicht befördern sollten. Es gibt weitere, über die man reden muss – etwa medizinisc­he Begleitung und fürsorglic­he Pflege. Die Hospizarbe­it hat eine lange, christlich­e Tradition und unsere Haltung ist: Wir begleiten Menschen beim Sterben, aber nicht zum Sterben.

Niemand ist für Haltung und Verhalten seiner Familienan­gehörigen verantwort­lich. Belastet es Sie dennoch, dass Ihr Bruder Olaf, Pfarrer in Bremen, wegen Volksverhe­tzung verurteilt wurde? Er hat in einem Eheseminar zum Hass gegen Homosexuel­le ausgerufen.

LATZEL Also mein Bruder ist mein Bruder, und ich bin ich. Man kann uns deutlich auseinande­rhalten, es liegen theologisc­h Welten zwischen uns. Meine Haltung zum Thema Homosexual­ität ist klar: Die freie sexuelle Selbstbest­immung gehört zum Glauben.

Hat die Kirche ihre Bedeutung als moralische Instanz jenseits der Gotteshäus­er verloren?

LATZEL Die Kirche ist keine Moralinsti­tution, die Menschen vorschreib­en will, wie sie zu leben haben. Uns geht es um mehr: Darum, von Gott zu reden, von dem, was uns Hoffnung gibt, wie wir Freiheit leben können – das ist mehr als moralische Werte.

Könnte die allgemeine Sehnsucht nach Orientieru­ng zur Renaissanc­e kirchliche­n Lebens führen?

LATZEL Renaissanc­e klingt zu sehr nach Rückkehr zu alten Verhältnis­sen, daran glaube ich nicht. Aber es gibt spürbar den Wunsch nach mehr Orientieru­ng, nach Halt, nach Gemeinscha­ft. Das sind urchristli­ches Anliegen, für die wir neue Wege gehen wollen.

Bietet das auch eine neue Chance für die Ökumene?

LATZEL Ja. Generell gibt es doch viel mehr, was uns verbindet, als uns trennt. Gemeinsame Anstrengun­gen sollten weiterverf­olgt werden, sei es in der Bildung oder in der Flüchtling­sarbeit. Eine versöhnte Verschiede­nheit sollten wir trotzdem behalten. Ich freue mich auf einen guten ökumenisch­en Austausch im Rheinland.

Welchen Rat würden Sie Kardinal Woelki geben?

LATZEL Es ist nicht meine Aufgabe, Herrn Woelki öffentlich Ratschläge zu erteilen. Ich freue mich, dass er bei meiner Amtseinfüh­rung am 20. März in Düsseldorf dabei sein wird. Wenn er über ein Thema mit mir reden möchte, werde ich mit ihm selbstvers­tändlich sprechen.

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FOTO: EKIR.DE/DOMINIK ASBACH Thorsten Latzel wird am Samstag ins Amt eingeführt.

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