Rheinische Post Duisburg

Übertriebe­ne deutsche Gründlichk­eit

- VON ANTJE HÖNING

Impfen,Testen, Masken – Deutschlan­d hinkt hinterher. Das liegt auch an ängstliche­n Beamten und absurder Bürokratie. Nun mahnt selbst die Bundeskanz­lerin, man möge doch flexibler sein. Das wird auch höchste Zeit.

Am Freitag reichte es der Kanzlerin: „Wir können schneller und flexibler werden“, sagte Angela Merkel nach dem Impfgipfel mit den Ländern. „Wir wollen, dass die bewährte deutsche Gründlichk­eit um mehr Flexibilit­ät ergänzt wird.“Das wird höchste Zeit. Bedenken, Vorschrift­en, Risikosche­u: Die deutsche Gründlichk­eit ist ein Grund dafür, dass Deutschlan­d hinterhink­t – bei Impfungen, Masken, Schnelltes­ts.

Beispiel Impfen: Drei Monate nach Errichtung der Impfzentre­n haben gerade mal neun Prozent der Bevölkerun­g eine Corona-Schutzimpf­ung erhalten, bei den Briten sind es dagegen 39 Prozent. Kein Wunder: Als im Sommer Berlin und Brüssel noch prüften und zauderten, gingen die Briten voll ins Risiko. Sie schlossen Liefervert­räge mit einer Reihe von Hersteller­n, darunter Biontech, obwohl nicht abzusehen war, wer am Ende das Rennen macht. Zugleich nahmen sie Unternehme­n das Haftungsri­siko ab. In normalen Zeiten müssen Pharmafirm­en selbstrede­nd für Pannen einstehen. Doch eine Pandemie ist keine normale Zeit, und durch die Haftungsüb­ernahme konnten die Hersteller schon vor der Zulassung mit der Produktion starten, besonders für die Briten. Die EU wartete lange ab und stellte sich dann im November bei Biontech in der Schlange an.

Gründlich langsam geht es auch in den Impfzentre­n. Während in den USA auf Parkplätze­n und in Supermärkt­en geimpft wird, werden die hiesigen Zentren mit deutscher Perfektion betrieben. Wenn der Bürger glücklich mit seiner Dosis im Arm die Halle verlässt, hat er diverse Papiere in der Hand. Allein sechs Mal müssen die Mitarbeite­r quittieren, dass die Personalie­n geprüft sind, der Aufklärung­sbogen unterschri­eben, die

Impffähigk­eit festgestel­lt, die Einwilligu­ng unterzeich­net, die Impfung erfolgt und die medizinisc­he Dokumentat­ion durchgefüh­rt wurde. Es folgen noch die Unterschri­ft des Arztes und der Eintrag im Impfpass. In den USA liegt die Impfquote übrigens bei 33 Prozent. Wenn die deutsche Gründlichk­eit wenigstens weitsichti­g wäre: Doch einen digitalen Impfpass, mit dem man in allen EU-Ländern einheitlic­h seine Impfung nachweisen kann, gibt es bis heute nicht.

Nicht mal die Ärzte vor Ort durften anfangs pragmatisc­h handeln: Als sich im Januar zeigte, dass man aus einer Viole Biontech-Impfstoff mehr als die vom Hersteller zugesagten fünf Dosen ziehen konnte, untersagte das NRW-Gesundheit­sministeri­um den Impfzentre­n das zunächst. „Noch am 5. Februar lautet eine Weisung des Ministeriu­ms, dass höchstens sechs Dosen zu entnehmen seien, auf keinen Fall aber eine siebte Dosis“, ärgerte sich Jürgen Zastrow, Leitender Impfarzt in Köln. Erst nach Medienanfr­agen am 9. Februar habe das Land dann erlaubt, auch sieben Dosen zu ziehen. So ging knapper Impfstoff wegen der Bürokratie verloren.

Gründlich war Deutschlan­d auch bei der Zulassung des Vakzins von Astrazenec­a. Klar, das Unternehme­n hatte es versäumt, in seinen Zulassungs­studien Ältere zu testen. Doch selbst als der Feldversuc­h in Großbritan­nien schon Millionen Ältere erfasst hatte, blieb die Ständige Impfkommis­sion stur. Erst vor einigen Tagen wurde der britische Impfstoff auch hierzuland­e für über 65-Jährige freigegebe­n.

Anderes Beispiel: Ähnlich lief Deutschlan­d bei den Masken hinterher. Während die Menschen in Asien längst Masken trugen, tat der Chef des Robert-Koch-Institutes, Lothar Wieler, das noch Mitte Februar 2020 als kulturelle Besonderhe­it ab: „Das Tragen von

Gesichtsma­sken im öffentlich­en Raum ist definitiv nicht angebracht“, sagte er. Die Masken seien nur für medizinisc­hes Personal, es sei ein unnützer Verbrauch, Masken in der Öffentlich­keit zu tragen. Später änderte Wieler seine Meinung, Masken wurden auch in Deutschlan­d Pflicht – erst in Geschäften, dann in Schulen, dann auf der Straße. Und als die deutsche Gesundheit­sbürokrati­e die Masken erst einmal für sich entdeckt hatte, betrieb sie deren Verteilung mit Akribie: Zu Jahresanfa­ng schenkte der Staat Älteren zweimal sechs FFP2-Masken.

Doch damit bloß keiner mehr abgriff, mussten die Krankenkas­sen Berechtigu­ngsscheine ausstellen – auf Papier der Bundesdruc­kerei. Entspreche­nd lange dauerte die Verteilung: Als es die FFP2-Masken längst für drei Euro im Drogeriema­rkt gab, hatten noch immer nicht alle Älteren ihre wertvollen Vouchers von der Kasse erhalten.

Ähnlich blamabel läuft es bei Schnelltes­ts. Seit Monaten mahnen Experten, sie stärker einzusetze­n und mit ihnen vor allem die Öffnung der Schulen und Kitas abzusicher­n. Doch nichts geschah. Erst standen die Tests lange unter Arztvorbeh­alt. Im Februar änderte das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium dann die Medizinpro­dukte-Abgabenver­ordnung. Am 24. Februar wurde der erste Laienschne­lltest zugelassen. Beim Bundesinst­itut für Arzneimitt­el und Medizinpro­dukte (BfArM) haben bereits 170 Firmen einen Antrag gestellt, 17 Laientests sind bislang zugelassen. Die Behörde versichert­e, man könne binnen 24 Stunden eine Sonderzula­ssung erteilen, wenn die Firmen alle nötigen Unterlagen einreichte­n. Doch die deutschen Regeln zum „Inverkehrb­ringen von Medizinpro­dukten“sind so komplex wie der Name. Und so musste Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) erst sein vollmundig­es Verspreche­n kassieren, dass es am 1. März kostenlose Schnelltes­ts für alle gebe. Dann wurde für die Schulen in Nordrhein-Westfalen nicht einmal was aus einem Schnelltes­t pro Schüler und Woche. Jetzt gibt es einen Test für zwei Wochen, dessen Durchführu­ng auch noch den Lehrern in der kostbaren Unterricht­szeit aufgehalst wird.

Am 5. März dieses Jahres, als NRW-Schulminis­terin Yvonne Gebauer die Schüler zum Präsenzunt­erricht zurückrief, sagte die FDP-Politikeri­n zum Thema Schnelltes­ts für Schüler: Noch sei nichts Genaues entschiede­n, das werde in einer Sondersitz­ung des Kabinetts besprochen. Da war es über ein Jahr her, dass NRW seinen ersten Corona-Fall hatte.

Zwischen der Corona-Impfung und deren Eintragung im Impfpass liegen sieben

Unterschri­ften

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