Rheinische Post Duisburg

Kampf ums Kind

- VON VIKTOR MARINOV

Zwei Jahre lebt die zwölfjähri­ge Maria in einem Heim. Der Vater steht unter Missbrauch­sverdacht, hat aber das Sorgerecht. Wie das Mädchen

zur Mutter floh und einen Sieg unter Vorbehalt erkämpfte.

Während Claudia A. spricht, tastet ihre zwölfjähri­ge Tochter immer wieder nach ihrer Hand. Dann umklammert Maria* fest die Hand ihrer Mutter oder legt ihre eigene sanft darauf. Später sitzen die beiden zusammen auf dem schwarzen Teppich im Wohnzimmer nebeneinan­der und umarmen sich, für einige Augenblick­e drücken sie sich eng aneinander. Es sind Berührunge­n, die Mutter und Tochter zwei Jahre lang verwehrt geblieben sind. Denn Maria lebt erst seit wenigen Wochen wieder bei ihrer Mutter, ihre zwei Geburtstag­e davor verbrachte sie in einem Kinderheim. Ein jahrelange­r Streit ums Sorgerecht, in dem es auch um Missbrauch­svorwürfe gegen den Vater geht, hielt Maria gefangen an einem Ort, über den sie im Rückblick kein positives Wort sagt. Vor wenigen Wochen nahm die Zwölfjähri­ge ihr Schicksal selbst in die Hand. Und haute ab.

Maria war viereinhal­b Jahre alt, als sie zum ersten Mal ihrer Mutter beschrieb, dass sie missbrauch­t worden sei. Ihr Vater habe sie anzüglich geküsst und mit der Zunge im Intimberei­ch berührt. Zu diesem Zeitpunkt sind Marias Eltern seit etwa einem Jahr getrennt. Für Claudia A. beginnt ein Kampf, durch den sie den Glauben verlieren wird an das deutsche Rechtssyst­em, an Jugendämte­r und Gerichte. „Ich war dumm“, sagt A. heute. „Ich habe mir gedacht: Ich bin Lehrerin, ich bin eine gute Mutter, was soll mir schon passieren?“

Die Langfassun­g des Kampfes umfasst rund 15 Ordner. Die Kurzfassun­g geht so: Für den Missbrauch, den Maria ihrer Mutter schildert, gibt es keine Belege außer den Aussagen des Kindes. Es gibt kein Verfahren gegen den Vater. Eine Gynäkologi­n untersucht das Kind und verständig­t das Jugendamt, dieses verbietet dem Vater den Kontakt zu Maria. Er will den Kontakt aber unbedingt haben. Der Vater stellt immer wieder Anträge darauf, gibt mehrere Gutachten in Auftrag. Auf die Anfrage unserer Redaktion antwortet er nicht, er will sich weder zu seiner Beziehung zu Maria äußern noch zu den Vorwürfen.

Marias Vater bekommt schließlic­h das Recht auf „Umgang“. Er darf seine Tochter in Anwesenhei­t einer Pflegerin sehen. Doch Maria lehnt die Treffen ab; als sie davon erfährt, richtet sich ihr Ärger auch gegen die Mutter. Claudia A. erinnert sich noch gut an die Worte ihrer Tochter.

„Sie hat mich gefragt, was ich für eine Mutter wäre, die sie nicht schützt. Das war richtig schlimm.“Aber es kommt schlimmer.

Ein Gutachter untersucht Claudia A. im Auftrag ihres Ex-Partners. Das Treffen dauert laut der Lehrerin keine Viertelstu­nde. Der Gutachter bescheinig­t ihr, dass sie erziehungs­unfähig und bindungsin­tolerant sei, den Missbrauch habe sie ihrer Tochter eingeredet. Die Mutter versucht, sich zu wehren, schafft es aber nicht. „Ich hatte gar keinen Fachanwalt für Familienre­cht, sondern einen für Verkehrsre­cht. Er war richtig klasse, aber naiv, so wie ich.“Der Gutachter empfiehlt, Maria „dauerhaft an einem neutralen Ort unterzubri­ngen“. Der Vater setzt sich vor Gericht durch. Später sagen mehrere Experten unabhängig voneinande­r, dass die Gutachten handwerkli­ch schlecht seien, wichtige Standards nicht erfüllten, ein Psychiater bescheinig­t Claudia A. psychische Gesundheit. Unsere Redaktion konnte die Unterlagen einsehen. Ehemalige Schüler starteten eine Petition: „Wir kennen Frau A. schon viele Jahre, sie war für uns immer eine einfühlsam­e, verständni­svolle, warmherzig­e Lehrerin“, heißt es darin.

Als die Gegengutac­hten und die Petition kommen, hat sich der Vater längst vor Gericht durchgeset­zt. Es ist März 2019, als Maria in eine Jugendeinr­ichtung in Hamm kommt. „Die anderen Kinder waren sehr gewalttäti­g“, sagt sie. „Sie haben mich geschlagen und getreten, ich habe mich nicht gewehrt.“Die Leiterin des Heims will sich auf Anfrage zu den Schilderun­gen nicht äußern. Sie beantworte grundsätzl­ich gerne Fragen zur Einrichtun­g. „Jedoch ist es weder gewollt noch rechtens, Informatio­nen über Kinder und Jugendlich­e, die in unserer Betreuung waren oder sind, weiterzuge­ben.“

Im Februar, fast zwei Jahre nach Marias Aufnahme, beschließt das Heim, dass man ihr dort nicht helfen kann. Das Mädchen nehme die Hilfe nicht an, heißt es. Maria kommt in ein anderes Heim, von Hamm nach Herne. Der entscheide­nde Unterschie­d: Die neue Einrichtun­g ist nicht so abgelegen, sondern mitten in der Stadt. Maria fragt eine Erzieherin, ob sie spazieren gehen darf. „Man musste nur geradeaus gehen, über die Brücke, und dann war ich in der nächsten Stadt.“Sieben Kilometer sind es bis nach Recklingha­usen, dann steht Maria vor der Tür ihrer Großeltern mütterlich­erseits.

Marias Flucht bringt die entscheide­nde Wende. Wenige Zeit danach bekommt Claudia A. per E-Mail Bescheid, dass die Unterbring­ung im Heim in Absprache mit dem Vater beendet wird. Sie wird aufgeforde­rt, die Sachen ihrer Tochter abzuholen. Das Oberlandes­gericht in Hamm beschließt, dass Mutter und Tochter zusammenbl­eiben können.

Claudia A. und Maria machen jetzt Hausaufgab­en, streichen das Zimmer des Mädchens pink, die Mutter weint vor Freude, wenn sie davon erzählt. Es könnte nur das vorläufige Ende des langen Kampfs sein. Das Sorgerecht liegt noch bei Marias Vater. In drei Monaten steht der nächste Gerichtste­rmin an.

*Name von der Redaktion geändert.

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