Leben im Soziallabor
Der langjährige Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen analysiert die Macht der Kommunikation – speziell auch in der „ver-rückten Corona-Welt“.
Hermann Strasser, von 1977 bis 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Duisburg-Essen, ist auch nach seiner Emeritierung einer der produktivsten Wissenschaftler seiner Zunft. Er ist Autor beziehungsweise Herausgeber von mehr als 400 Aufsätzen in in- und ausländischen Zeitschriften und mittlerweile 33 Büchern, darunter auch seine Autobiografie „Die Erschaffung meiner Welt: Von der Sitzküche auf den Lehrstuhl“(die RP stellte den Band vor). Jetzt veröffentlichte Strasser das Buch „Der Kommunikator als Architekt der Gesellschaft: Blicke, Worte, Gesten“als erster Band der neuen Buchreihe „Edition soziologie heute“(Amazon/Kindle Direct Publishing, 2020. 222 Seiten, 10,70 Euro). Wir haben darüber mit ihm gesprochen.
Sie haben Ihr jüngstes Buch nicht nur in der Corona-Zeit geschrieben, Sie machen die Pandemie auch in vielerlei Hinsicht zum Thema. Sie schreiben, dass in der Corona-Krise die Welt zum „Soziallabor“geworden sei. Blickt der Sozialwissenschaftler Strasser anders auf die Pandemie als der Mensch Strasser?
HERMANN STRASSER Naja. Auch Sozialwissenschaftler sind nur Menschen und entsprechend herausgefordert im Denken und im Handeln. Was ich zeigen will: In der Corona-Krise ist die Welt keineswegs, wie manchmal gesagt wird, zum Stillstand gekommen. Vielmehr ist sie zum Soziallabor geworden, in dem nicht nur Home-Officer an einer neuen Gesellschaft basteln, einen Wertewandel einleiten und eine neue Normalität erzeugen. Die Wirtschaft kennt keinen Stillstand. Die mobilen Arbeitsnomaden verwandeln sich in flexible Heimarbeiter, Kongresse und Versammlungen, auch Beratungen der Regierenden finden im Netz statt. Die Schichtarbeit im Büro nimmt zu, um nicht anzustecken, und der Heimwerker im Heim blüht angeblich auf. Das lehrt uns auch, dass Globalisierung und Digitalisierung vor allem bedeuten, sich immer öfter an neue Situationen anpassen zu müssen.
Schon die Putzfrau im Loriot-Film „Pappa ante Portas“wusste, dass es an der „Kommunikation“liegt, als „Pappa“sich nicht mehr zurechtfindet. Wie skizzieren Sie die Macht der Kommunikation als Soziologe? STRASSER Wir verstehen das Leben des Menschen als einen Raum der Kommunikation. Denn der Mensch kann nicht nichtkommunizieren, wie der Psychotherapeut Paul Watzlawick immer wieder gepredigt hat. Wenn in diesem Raum, wie in der Corona-Krise, aber auch in anderen Lebenssituationen plötzlich Akteure verschwinden, mit denen man Kontakt pflegte, Institutionen wie Bildungseinrichtungen, Theater, Museen und Restaurants nicht mehr zugänglich sind, Reisen nicht mehr möglich ist, Menschen plötzlich Masken tragen und neue Begrüßungsrituale eingeführt werden, wird das Gewohnheitstier Mensch herausgefordert.
Welche Herausforderungen sind die größten?
STRASSER Der Mensch fühlt sich in Bedrängnis, manchmal auch bedroht. Vor allem dann, wenn die physische zur sozialen Distanz wird und zum Alleinsein führt. Sozialwissenschaftler sprechen von sozialer Isolation. Deshalb möchte ich in meinem Buch auch die Wurzeln und Folgen unseres regelgeleiteten Handelns aufzuspüren.
Das bedarf einer Erläuterung... STRASSER Der Mensch kommuniziert auf der Handlungsebene durch Blicke, Worte und Gesten. Handlungen bauen Beziehungen zu anderen Menschen auf, die wiederum mehr oder weniger verbindliche Verhaltensregeln benötigen. Diese liefern Institutionen wie Familie, Schule und Kirche sowie Justiz, politische Parteien und Medien. Der handelnde Mensch lebt und handelt in komplexen Teilsystemen der Gesellschaft wie Unternehmen, Verbände und Vereine, in der Stadt oder auf dem Land. In diesen sozialen Strukturen entfaltet sich der Wirkungszusammenhang der einzelnen Handlungsfelder. So verschafft die Macht der Kommunikation den Menschen Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen wie Religion, Geschlecht, Alter, Bildung, Beruf und Einkommen.
Der Mensch, so schreiben Sie, ist ein „janusköpfiges Wesen“, denn er gehört zwei
Welten an, der Natur und der Kultur. Was meinen Sie damit?
STRASSER Der Mensch kann aufgrund seiner unspezifischen Organausstattung ohne Kultur, das heißt seine selbstgemachte Lebensweise, nicht leben. Seine Lebenswelt grenzt er ja nicht wie das Tier durch Duft, sondern durch sichtbare Symbole ab, denen wiederum moralische Werte und Verhaltensregeln zugrunde liegen. Gäbe es diesen kulturellen Bezugsrahmen nicht, würde die menschliche Gesellschaft nicht funktionieren.
Der Mensch, so heißt es in Ihrem Buch, ist ein „findiger Anpasser“. Wie hilft ihm das?
STRASSER Leben ist Handeln, indem der Mensch über Blicke, Worte und Gesten kommuniziert und sich dabei an Werten, Normen und Symbolen orientiert. Nur so findet er sich auch in einer im wahrsten Sinne des Wortes „ver-rückten“Corona-Welt zurecht. Und das manchmal sogar anstandslos abstandslos.
Wie sehen Sie diese „Corona-Welt“? STRASSER Wir müssen in der Corona-Welt plötzlich Solidarität üben, in dem man auf Distanz geht, Freiheit ermöglichen, indem unsere Bewegungen auf Schritt und Tritt digital erfasst werden, und Kinder erleben, die lieber zur Schule gehen als zu Hause bleiben. Eigentlich hat der Mensch ja die Demokratie geschaffen, um „alle Macht auf ein spezifisches Gemeinwohlinteresse“hin zu bündeln, wie der Politikwissenschaftler Rainer Forst argumentiert. Dennoch macht ihm das Corona-Krisenmanagement nicht selten einen Strich durch die Rechnung.
Da ist wieder der „findige Anpasser“gefragt...
STRASSER Das kommunikative Handwerkszeug macht den Menschen zum findigen Anpasser, um sich den Herausforderungen von Umwelt, Kultur und Gesellschaft zu stellen. So wird er als findiger Anpasser zum genialen Architekten seines Bauwerks, der Gesellschaft, auch wenn genial nicht immer ideal bedeutet. Ohne seine Fähigkeit zur kooperativen Kommunikation
wäre das nicht möglich.
Sie zitieren in Ihrem jüngsten Buch nicht nur viele Ihrer Wissenschaftskollegen aus der Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch Schriftsteller und Dichter. Das finde ich nicht nur beeindruckend, sondern auch ungewöhnlich. Die von Ihnen zitierte Diagnose von Daniel Kehlmann finde ich erschütternd: „Aus einem Wesen des Geistes und der Freiheit, der Schönheit und der Erotik wird ein Wesen, das Krankheiten in sich trägt und Viren spuckt.“So schlimm sehen Sie das doch wohl nicht, oder?
STRASSER Kehlmann sieht tatsächlich in der Corona-Krise die traurigste Krise der Menschheit, weil das Heilmittel im einander Fernbleiben liege. Dagegen möchte ich anführen: Regeln sind aber nicht vorbehaltslos, sie sind veränderbar, auch wenn Sinn immer Zeit braucht. So wie Corona sogar manche Menschen wieder gemeinsam an einen Tisch sowie neue Wörter, Gesten und Rituale in die Welt gebracht hat, wird sich nach Corona der Mensch als findiger Anpasser wieder ins Zeug werfen. Natürlich wird dann nicht alles wieder so sein wie davor.
Woran denken Sie in dieser Hinsicht besonders?
STRASSER In der Aufarbeitung der Krise und ihrer Folgen werden sich hoffentlich Gesundheitssystem, Klimawandel, Digitalisierung und Globalisierung so nahe kommen wie noch nie zuvor. Vor allem muss es darum gehen, in die Debatte um die Verhältnismäßigkeit der Lasten die Sünden der Vergangenheit in Verbindung mit den Chancen für die Zukunft einzubeziehen. Nur dann wird es ein „nicht weiter so wie bisher“geben. Die Finanzkrise vor 13 Jahren lässt grüßen.
Werden wir nach Corona anders auf die Welt blicken?
STRASSER Das hoffe ich sehr, denn die Corona-Pandemie ist der beste Beweis dafür, dass nicht nur die Digitalisierung, sondern auch die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften zu einem weltumspannenden Sicherheitsrisiko geworden ist. Es werden auch lokale Probleme verstärkt in den Vordergrund rücken, weil das Leben vor Ort vom Funktionieren der modernen Gesellschaft abhängig ist.
Gibt es so etwas wie eine Botschaft in Ihrem Buch?
STRASSER Ja: Die kommunikative Fähigkeit des Menschen macht ihn zum Architekten der Gesellschaft. Durch kooperative Kommunikation nimmt er die Perspektive des Anderen ein und erzeugt ein „Wir“. Deshalb habe ich das Buch auch „den Anderen“gewidmet, weil sie unser Fenster zur Welt sind. Durch ihre Reaktionen halten sie uns einen Spiegel vor, in dem wir uns auch selbst erkennen.