„Die AfD hat gezielt russlanddeutsche Wähler angesprochen“
Die Forscherin der Uni Duisburg-Essen spricht über den Zusammenhang von Migrationshintergrund und Wahlverhalten.
Rund vier von zehn Duisburgern haben einen Migrationshintergrund, in einigen Stadtteilen bilden sie sogar die Mehrheit. Bei der Bundestagswahl in diesem Jahr darf zwar nur rund die Hälfte von ihnen wählen. Diejenigen, die auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Dennoch sind sie gerade hier eine große und oft zu wenig beachtete Wählergruppe. Forscher des Interdisziplinären Zentrums für Integrationsund Migrationsforschung der Universität Duisburg-Essen haben sich mit dem Wahlverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigt. Sabrina Mayer hat mit uns über die Ergebnisse gesprochen.
Wählen Deutsche mit Migrationshintergrund anders?
SABRINA MAYER Es ist tatsächlich so, dass es bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund im Wesentlichen die gleichen Faktoren sind: Alter, Geschlecht, Bildung und bestimmte inhaltliche Präferenzen. Es ist nicht so, dass bei Wählern mit Migrationshintergrund ganz andere Fragen eine Bedeutung haben.
Trotzdem haben Sie sich in Ihrer Forschung auf zwei Gruppen mit Migrationshintergrund konzentriert. Auf die Deutschtürken und die Russlanddeutschen. Was macht die Gruppen jeweils so interessant?
MAYER Russlanddeutsche sind eine Besonderheit in der Gruppe der Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund, weil sie sich zum größten Teil als ethnische Deutsche verstehen und häufig auch im Heimatland miteinander Deutsch gesprochen haben. Sie haben ein ganz anderes Selbstverständnis als viele andere Gruppen von Einwanderern. Deutschtürken sind eigentlich die größte Migrantengruppe in Deutschland, von ihnen haben jedoch nur sehr wenige die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Anteil bei den Über-18-Jährigen liegt bei rund 25 bis 30 Prozent. Das heißt, wir haben hier eine sehr große Gruppe, von denen aber viele gar nicht wählen dürfen.
Es gab lange die Sichtweise, dass bei diesen Gruppen die Wahlentscheidung eigentlich schon klar ist. Spätaussiedler wählen CDU, Deutschtürken SPD. Hat sich das gewandelt?
MAYER Wir beobachten schon seit Beginn der 2010er-Jahre, dass auch in der Gesamtbevölkerung die Bindungen zwischen bestimmten Gruppen und Parteien abnehmen. Das können wir auch für die Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund feststellen. Die Menschen entscheiden sich viel mehr aus individuellen Motiven für eine bestimmte Partei.
Kann das auch damit zu tun haben, dass viele Parteien gerade auf diese Wählergruppen nicht richtig zugehen?
MAYER Das kann auch gut sein, natürlich. Lange Zeit hat man als gegeben hingenommen, dass sich Wählerinnen und Wähler mit türkischer Migrationsgeschichte automatisch für die SPD entscheiden. Auch bei der CDU/ CSU haben wir in der Vergangenheit sehr selten eine gezielte Ansprache von Russlanddeutschen gesehen, auch weil die Gruppe gar nicht als so bedeutend angesehen wurde.
Die AfD hat bei der Bundestagswahl 2017 vermehrt Russlanddeutsche von der Wahl ihrer Partei überzeugt. Wie ist das gelungen? MAYER Die Partei hat diese Gruppe sehr gezielt angesprochen. Das Wahlprogramm und Plakate wurden auf Russisch übersetzt, russlanddeutsche Kandidaten aufgestellt und gezielt Positionen eingenommen, die vielen Russlanddeutschen wichtig sind. Beispielsweise ein gutes Verhältnis zu Russland. Trotzdem lag der Anteil der Wähler nur etwas höher als bei Deutschen ohne
Migrationshintergrund.
Spielt das Verhältnis der jeweiligen Partei zum Heimatland der Vorfahren auch bei deutschtürkischen Wählern eine Rolle?
MAYER Dafür haben wir nicht wirklich Hinweise gefunden. Das kann daran liegen, dass diejenigen, die sich selbstständig für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden, gar nicht so viel Interesse daran haben, wie das Verhältnis zur Türkei ist.
Können andere Parteien vom Wahlkampf der AfD 2017 lernen? Dass es vielleicht auch Sinn macht mit mehrsprachigen Angeboten gezielt diese Wählergruppen anzusprechen.
MAYER Natürlich können andere Parteien das auch machen. Mehrsprachige Angebote sind zwar oftmals nicht nötig, weil diejenigen mit deutscher Staatsbürgerschaft in der Regel auch sehr gut Deutsch sprechen. Aber trotzdem ist es ein Akt der Wertschätzung, mit eigenen Materialien auf die jeweilige Gruppe einzugehen. Ich glaube, das würde gut ankommen.
Im Bundestag ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund geringer als in der Gesamtbevölkerung. Ist das auch eine Ursache dafür, dass in manchen Communities die Wahl weniger beachtet wird?
MAYER Wahlbeteiligung hat immer sehr viele Gründe. Aber dieses Gefühl, es gibt gar keine Politiker, die sich um meine Interessen kümmern, spielt sicherlich eine Rolle. Das kann dazu führen, dass in manchen Gruppen die Wahlbeteiligung wesentlich niedriger ist. Das ist ein Teufelskreis. Je niedriger die Wahlbeteiligung wird, umso geringer werden für Politiker auch die Anreize, diese Gruppen anzusprechen.
Im September ist wieder Bundestagswahl. Sehen Sie, dass in den Parteien mehr an die Wähler mit Migrationshintergrund gedacht wird?
MAYER Durch Corona ist es aktuell schwer, die Parteien zu beobachten. Persönlich habe ich aber schon das Gefühl, dass sie für dieses Thema wesentlich sensibilisierter sind. Was genau an Ansprache dazu kommt,
müssen wir abwarten.
Was würden Sie denn raten?
MAYER Repräsentation und Wahlprogramm sind zwei wichtige Punkte. Repräsentation heißt nicht nur, bestimmte Kandidatinnen und Kandidaten aufzustellen, sondern auch Netzwerke zu gründen und Veranstaltungen speziell für bestimmte Gruppen anzubieten. Man kann auch bei der Aufstellung des Wahlprogramms darauf achten, was für eine bestimmte Subgruppe von Wählerinnen und Wählern wichtig ist. Bei Russlanddeutschen ist es beispielsweise die Anerkennung der Rentenzeiten. Das hatte die CDU sehr lange nicht auf dem Schirm. Solche Punkte spielen für weniger Menschen eine Rolle, aber für eine bestimmte Gruppe eine sehr wichtige. Die kann man dann gezielter ansprechen.