Rathaus steht für den demokratischen Neubeginn
MOERS Das schönste Rathaus in Nordrhein-Westfalen hat Moers nicht. Zumindest ist das das Ergebnis des Wettbewerbs „Wer hat das schönste Rathaus in NRW“, der von Heimatministerin Ina Scharenbach im September 2019 ausgerufen wurde. 74 Rathäuser standen zur Auswahl. Die meisten Personen stimmten für das Rathaus in Recklinghausen, das mit seinem neogotischen Stil ein wenig an das Traumschloss Neuschwanstein erinnert. Sie bewerteten Schlichtheit und Eleganz weniger stark, die vom Moerser Rathaus gespiegelt werden. Es steht für den Willen zum demokratischen Neuanfang vor 75 Jahren, wie der Grafschafter der Rheinischen Post für einen demokratischen Neuanfang vor 75 Jahren steht.
1946 war ein Jahr der Ideen, wie das demokratische Zeitalter aussehen sollte, nachdem die nationalsozialistische Schreckensherrschaft vorüber war. Carlo Schmid (1869 bis 1979) soll sich als Justizminister in Württemberg-Hohenzollern erste Gedanken zu einem Grundgesetz gemacht haben. An diesem arbeitete seit 1948 auch der Moerser Widerstandskämpfer Hermann Runge. So wurde es 1949 zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Alfred Müller-Armack (1901 bis 1978) vollendete in Münster sein Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“, in dem er erstmals die Idee der Sozialen Marktwirtschaft benennt, die Basis für das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre werden sollte. Und in Düsseldorf gründete Karl Arnold die Rheinische Post als Zeitung für „Christliche Politik und Kultur“.
Auch direkt nach dem Krieg starteten die Überlegungen, am Unterwall ein neues Rathaus zu bauen, nachdem es diese schon 1913 gegeben hatte. Das Rathaus an der Steinstraße 1 neben der Stadtkirche war zu klein geworden war, nachdem die Stadt mit dem Steinkohlenbergbau stark gewachsen war. Aber Erster Weltkrieg und belgische Besatzungszeit, Weltwirtschaftskrise und Zweiter Weltkrieg hatten diese ersten Überlegungen vereitelt. Heinrich Hauschild, der ab 1948 Stadtbaurat war, arbeitete die erste Planung zum „neuen Rathaus“nördlich den Neumarkts aus. Als die Grafenstadt im Juli 1950 ihren 650. Geburtstag feierte, beschloss der Stadtrat, diese Planung umzusetzen.
Architekt wurde Rainer Runge und schon im März 1951 begann die Ausschreibung. Im August 1951 erfolgte die Grundsteinlegung durch Bürgermeister Wilhelm Müller. Im Mai 1952 wurde das Richtfest gefeiert. Ab Januar 1953 bis Dezember 1954 wurde das „neue Rathaus“, wie es damals hieß, Abschnitt für Abschnitt bezugsfertig. Es zählt zu den wenigen Rathäusern, die in den Anfangsjahren der Bundesrepublik errichtet wurden, weil zu dieser Zeit vor allem einfache Wohnhäuser gebaut wurden, um der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg Herr zu werden.
Als die Stadt 1984 das Kreishaus an der Meerstraße übernahm, wurde das einstige „neue Rathaus“zum „alten Rathaus“und das Kreishaus zum „neuen Rathaus“. Ab 2009 wurde das Rathaus an der Unterwallstraße grundlegend saniert. Außerdem wurde es um ein modernes Verwaltungsgebäude ergänzt, das 2012 bezugsfertig war, um die Mitarbeiter aus dem einstigen Kreishaus aufzunehmen. Beide Gebäude bilden eine Einheit.
Der Turm des Moerser Rathaus, der an das 1907 abgerissene Mattorn neben dem Rathaus an der Steinstraße erinnert, ist mit seiner Uhr ein beliebtes Fotomotiv und symbolisiert die Stadt Moers. Obwohl das Rathaus wunderschön in das Grün und Blau der Wallanlage eingebunden ist, kann es bei Wettbewerben nicht punkten, weil nur wenige Anhänger die schlichte und elegante Architektur der frühen Nachkriegszeit für sich entdeckt haben. Diese
Architektur ist genauso zu entdecken, wie die Geschichte des demokratischen Neuanfangs vor 75 Jahren, weil jede Generation Demokratie für sich neu zu entdecken hat, um sie dynamisch zu machen und auf den Stand des Heute zu bringen. Genauso hat sich ein Rathaus immer wieder zu ändern, um langfristig bestehen zu können, wie das Moerser Rathaus zeigt.