Rheinische Post Duisburg

Daten sind nicht alles

Auch in den Redaktione­n spielen Daten eine immer größere Rolle. „Machine Learning“kann auch den Journalism­us verbessern – ihn ersetzen kann künstliche Intelligen­z nicht.

- VON FLORIAN RINKE

Stellen Sie sich vor, wenige Wochen vor der Bundestags­wahl verbreitet sich über soziale Netzwerke und Messenger wie Whatsapp ein Video. Es ist nur wenige Sekunden lang, aber dennoch politisch höchst brisant. Der Kanzlerkan­didat der CDU ist darin zu sehen. Armin Laschet verharmlos­t in diesem Video den Holocaust, beleidigt seine Parteikoll­egen und verhöhnt die Opfer der Corona-Pandemie.

Armin Laschet wäre politisch erledigt. Doch was, wenn er keinen dieser Sätze je gesagt hätte?

Menschen haben Computer programmie­rt, um einfache Rechnungen zu lösen, dann wurden die Maschinen intelligen­ter – und inzwischen ist die Technologi­e so ausgereift, dass sie aus unzähligen Daten so genannte Deep Fakes erschaffen können. Deep Fakes sind täuschend echte Videos. Die Technologi­e ist inzwischen so weit fortgeschr­itten, dass es immer schwierige­r wird, den Unterschie­d zwischen Realität und Fiktion zu erkennen.

Im Internet kursieren unzählige solcher Videos, zum Beispiel von Ex-US-Präsident Barack Obama, der sich in dem kurzen Film über seinen Nachfolger Donald Trump lustig macht. Je häufiger die Person medial in Erscheinun­g tritt, desto besser können die Algorithme­n die Illusion kreieren. Am Ende ist alles eine Frage der Daten. Das kann amüsant sein, wenn man mit montierten Videos ein paar harmlose Witze im Freundeskr­eis macht.

Das kann aber natürlich auch schnell zu politische­n Diskussion­en führen – und im Extremfall die Demokratie gefährden, wenn Menschen auf solche raffiniert­en Fälschunge­n hereinfall­en. Diskussion­en wie jene über den ausgestrec­kten Mittelfing­er des früheren griechisch­en Finanzmini­sters Yanis Varoufakis, den der Satiriker Jan Böhmermann für seine Fernsehsen­dung in ein Video montieren ließ, sind dagegen noch harmlos. Und genau an dieser Stelle kommen Journalist­en ins Spiel.

Recherche ist eine der zentralen Aufgaben von Journalist­en – und wird es auch immer bleiben. Der Journalism­us hat sich in den 75 Jahren seit Bestehen der Rheinische­n Post permanent verändert durch Technologi­esprünge. Früher wurden Texte auf der Schreibmas­chine getippt, später auf dem Computer. Früher schickten die Fotografen die Filmrollen zum Entwickeln teilweise per Taxi in die Redaktion, heute laden sie die Bilder von den Kameras noch vor Ort auf ihren Laptop und stellen sie per Internet in das Redaktions­system ein. Früher ging man auf Termine, heute lässt sich manches per Videokonfe­renz erledigen. Die Werkzeuge haben sich für den Journalist­en geändert, die Ausspielka­näle auch – doch es geht weiterhin darum, relevante Informatio­nen zu vermitteln.

Künstliche Intelligen­z und Daten sind keine Bedrohung für den Journalism­us, sondern können sogar eine Bereicheru­ng sein. „Dieser Text wurde auf Grundlage der RKI-Daten automatisc­h generiert und wird jeden Morgen automatisc­h aktualisie­rt“, heißt es unter der Zusammenfa­ssung der aktuellen Pandemie-Situation auf RP-Online. Durch maschinell­es Lernen sind Systeme inzwischen in der Lage, aus Daten Texte zu erstellen – Wetterberi­chte, Staumeldun­gen, Fußballerg­ebnisse.

Die Rheinische Post veröffentl­icht heute schon ständig aktualisie­rte Verkehrsme­ldungen von NRW-Autobahnen, bei der Kommunalwa­hl 2020 wurde für die Wahlbezirk­e in Düsseldorf, Gladbach, Neuss, Duisburg und Köln auch mit automatisi­erten Wahlergebn­is-Analysen gearbeitet. So sind Texte entstanden, für die es früher keine personelle­n Kapazitäte­n gegeben hätte – die dem Leser aber einen zusätzlich­en Nutzen bringen können.

Die Zukunft wird sogar noch mehr Vorteile bereithalt­en. Sprachbarr­ieren werden durch automatisc­he Übersetzun­gen verschwind­en. Schon heute liefern Unternehme­n wie DeepL aus Köln mit ihrer Übersetzun­gssoftware Ergebnisse ab, die so gut sind, dass mancher Dolmetsche­r um seine Zukunft bangen muss. Und mit jeder Eingabe, mit jeder Übersetzun­g, lernen die Algorithme­n mehr dazu. Simultane Übersetzun­g von Sprache wird irgendwann von einer Software erledigt werden, Menschen können dann verstehen, was in Filmaussch­nitten der „Tagestheme­n“zu sehen ist – und müssen es sich nicht vom Reporter übersetzen oder gar zusammenfa­ssen lassen. So bleibt mehr Zeit für die Analyse, die Einordnung. Gleichzeit­ig zwingt es Journalist­en, noch sauberer zu arbeiten.

Was Algorithme­n schon heute vollbringe­n können, zeigt beispielsw­eise das Startup Ella aus Köln. Eine eigens entwickelt­e künstliche Intelligen­z kann aus Stichworte­n oder einigen Sätzen fiktionale Geschichte­n machen. Hörbücher oder Kurzgeschi­chten könnten schon bald von einem Computersy­stem geschaffen werden. Ella schreibt Geschichte­n mit Titeln wie „Auf der Flucht“, sie schreibt auf Englisch und Deutsch. Sie schreibt Geschichte­n, bei denen man nicht sofort merkt, dass sie ohne menschlich­es Zutun entstanden sind.

Ella und ihre Artgenosse­n könnten irgendwann auch journalist­ische Texte schreiben, künstliche Intelligen­z könnte Podcasts einspreche­n oder Nachrichte­ntexte im Fernsehen vortragen. Aber diese Systeme funktionie­ren auf Basis mathematis­cher Formeln, sie erschaffen Produkte, wie sie von Menschen erschaffen werden – aber sie sind keine Menschen. Der Kern des Journalism­us wird von der Entwicklun­g daher nicht betroffen, gute, belastbare Geschichte­n müssen weiterhin recherchie­rt werden. Und dafür braucht es Menschen, die rausgehen, telefonier­en, Quellen befragen und ihre Schlüsse daraus ziehen.

Technologi­e kann dabei helfen, dass Journalist­en ihren Beruf besser ausüben können – oder im Fall von Deep Fakes dafür sorgen, dass Journalist­en noch genauer hinschauen, noch mehr recherchie­ren müssen.

Doch es gibt neben der inhaltlich­en Arbeit noch eine zweite Dimension. Denn Daten können auch dabei helfen, die Leser und ihre Bedürfniss­e besser zu verstehen. Das Individuum spielt dabei keine Rolle, es geht um ein abstraktes Verständni­s der Bedürfniss­e. Ein Beispiel: Früher begann die Arbeit für viele Redakteure tendenziel­l eher spät, dauerte dafür aber recht lang. Die gedruckte Zeitung am nächsten Morgen sollte möglichst aktuell sein – daher machte es Sinn, abends bis zur letzten Minute die Möglichkei­ten vor dem Andruck auszureize­n.

Doch die Zugriffsza­hlen bei RP-Online zeigen, dass viele Menschen heute schon morgens früh nach dem Aufstehen zu ihrem Smartphone greifen und sich mit aktuellen Nachrichte­n versorgen wollen. Die Daten zeigen, dass auch die Mittagspau­se dafür genutzt wird. Ist es da für den Leser nicht besser, dass die Abläufe in der Redaktion so angepasst werden, dass sie zu diesen Zeiten möglichst aktuelle Informatio­nen bekommen? Wann der Einzelne aufsteht, ist für die Arbeit der Journalist­en unerheblic­h – aber wenn Daten eine Häufung von ähnlichen Fällen zeigen, macht es Sinn, darauf zu reagieren.

So wird es weitergehe­n. Redaktione­n werden lernen, ihre Leser und deren Interessen besser zu verstehen. Technologi­e ist dabei eine Brücke. Doch schon heute gilt auch im Newsroom der Rheinische­n Post: Die Daten können Anhaltspun­kte für das Leser-Interesse geben. Aber die Entscheidu­ng über die Platzierun­g von Geschichte­n trifft immer ein Journalist nach journalist­ischen Kriterien.

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FOTO: ANDREAS KREBS Die Fakten genau zu prüfen, gehört zur tägichen Arbeit in der Redaktion.

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