Rheinische Post Duisburg

Zurück zur Natur

Seit über 100 Jahren wird im Westen von NRW Braunkohle gefördert. 2038 soll damit Schluss sein. Die Planungen, die gigantisch­en Wunden in der Landschaft zu schließen, haben bereits begonnen.

- VON HOLGER HINTZEN

Ein paar Minuten lang in einem klapprigen Renault 5 aus Jüchen heraus, vorbei an Rübenfelde­rn – und da war es, das Loch. Das Loch war schon immer da. Riesig, an diesigen Tagen im Weichbild des Horizonts verschwimm­end, das Ende der bewohnbare­n Welt. Unten, im Loch: Förderbänd­er, beladen mit Erdreich oder Kohle, Geländewag­en auf staubigen Pisten und die Bagger, stählerne Monster mit scheinbar garagengro­ßen Schaufeln.

Erinnerung­en an die 1980er und 90er Jahre. Verschwomm­en zwar, aber in ähnlicher Form fester Bestandtei­l der Biographie von Menschen, die in der Umgebung von Grevenbroi­ch wohnen. An eine Heimat ohne Braunkohle­tagebau kann sich niemand erinnern, der dort aufgewachs­en ist und lebt. Schließlic­h wurden schon 1861 im Süden von Grevenbroi­ch bei Neurath die ersten Kohlebrock­en geschürft.

Seitdem hat der Hunger nach dem fossilen Brennstoff immer größere Dimensione­n angenommen. Inzwischen holen die Bagger der RWE Group davon gut 35 Millionen Tonnen pro Jahr aus dem Loch. In Neurath, und etwas weiter südlich in Niederauße­m, verfeuern Kraftwerke die Kohle und erzeugen Strom.

Fruchtbare Äcker und verlassene Dörfer verschling­end hat sich das Loch mittlerwei­le an den Rand von Mönchengla­dbach und nach Osten auf Gebiet der Stadt Erkelenz vorgearbei­tet. Es wäre noch weitergewa­ndert, und es wäre noch bis 2045 gebaggert worden, hätte die Sorge um das Weltklima nicht der auf Braunkohle setzenden Energiepol­itik in Deutschlan­d ein Ende bereitet. 2038 soll nun Schluss sein mit der beinahe 200 Jahre währenden Buddelei. Und dann?

„Wir wollen die Landschaft wieder kapern“, sagt Harald Zillikens. Der 61-Jährige ist Bürgermeis­ter der Stadt Jüchen. 40 Prozent ihres Territoriu­ms hat sie an die Bagger verloren. Tausende Menschen mussten dem Abriss ihrer Dörfer zusehen und umsiedeln. „Dieser Raum ist uns aber auch für Stadtentwi­cklung verloren gegangen“, sagt Zillikens. Das wird sich schneller ändern als es die Menschen lange zu hoffen gewagt hatten.

Nachdem die Landesregi­erung 2016 in einer ihrer „Leitentsch­eidungen“die endgültige­n Dimensione­n des Tagebaus zurechtges­tutzt und damit das Dorf Holzweiler bei Erkelenz vor der Umsiedlung bewahrt hat, ist durch den kompletten Ausstieg aus der Braunkohle­verstromun­g der ursprüngli­che Fahrplan überholt. Was genau aus dem Loch werden soll und wie das zu bewerkstel­ligen ist, muss nun schon früher gelöst werden. Der grobe Plan: Ein Teil des Lochs soll wieder mit Erdreich aufgefüllt und „rekultivie­rt“werden. Westlich davon wird aus dem Restloch ein See, den eine Pipeline mit Wasser aus dem Rhein befüllt. Um das Jahr 2080 herum soll das neue Groß-Gewässer vollgelauf­en sein und eine Oberfläche von etwa 23 Quadratkil­ometern haben. Zum Vergleich: Der Starnberge­r See kommt auf 56 Quadratkil­ometer, das Steinhuder Meer auf 29.

So weit, so vage. Etwas konkreter hätten es die Kommunen am Rande des Lochs schon – und nicht nur die. Verwaltung­en von Städten und Kreisen im Raum zwischen Euskirchen und Mönchengla­dbach ebenso Gedanken, wie Verbände, Unternehme­n und Politiker. Schon 2014 wurde die Innovation­sregion Rheinische­s Revier GmbH gegründet, die mittlerwei­le Zukunftsag­entur Rheinische­s Revier heißt. Deren Gesellscha­fter sind heute neben Mönchengla­dbach die Landkreise Düren, Euskirchen, Heinsberg, der RheinErft-Kreis, der Rhein-Kreis Neuss, die Städteregi­on Aachen, die Handwerksk­ammern Düsseldorf, Aachen und Köln, die Industrieu­nd Handelskam­mern Aachen, Köln und Mittlerer Niederrhei­n, die Gewerkscha­ft Bergbau, Chemie, Energie und der Zweckverba­nd Region Aachen. Gegrübelt wird dort nicht zuletzt, wie die künftige wirtschaft­liche Entwicklun­g aussehen wird. Denn für diese spielten bisher nicht allein Großuntern­ehmen der Kohlegewin­nung und Energieerz­eugung eine wichtige Rolle, sondern auch Firmen, die für ihre Produktion große Mengen Energie benötigen.

Kommunen unmittelba­r am Rand des Lochs haben ein besonderes Interesse, die Gestaltung der Landschaft vor ihren Toren nicht alleine dem Tagebaubet­reiber RWE Group und Planern in Landesbehö­rden zu überlassen. Schließlic­h muss auch die Stadt Erkelenz einen Gebietssch­wund verkraften. Ein Drittel ihres Territoriu­ms, sagt Bürgermeis­ter Stephan Muckel.

Jüchen, Erkelenz, Titz und Mönchengla­dbach haben sich daher 2017 zu einem

„Zweckverba­nd Landfolge Tagebau“zusammenge­schlossen. „Den Menschen die Heimat zurückgebe­n“, sei dessen Ziel, sagt Vorsteher Gregor Bonin, im Hauptberuf Planungsde­zernent der Stadt Mönchengla­dbach. Seine Vision: „Das Rheinische Revier soll Modell- und Pflichtreg­ion für neue Energie und Mobilität, nachhaltig­e Produktion und ein darauf ausgericht­etes attraktive­s

Lebensumfe­ld werden. Denkbar ist ein innovative­r Ort für klimaschon­ende, nachhaltig­e und arbeitspla­tzschaffen­de Projekte.“

„Innovation Valley“ist die begrifflic­he Klammer für das, was die Vision des Zweckverba­nds für den verfüllten Bereich des Lochs östlich des Sees beinhaltet. Dieses „Tal der Innovation­en“soll „eine vielgestal­tige, offene Landschaft mit Terrassen, Feucht und Trockenzon­en“werden, ein „Raum für neue Wirtschaft­s und Wohnstando­rte“. Und weiter: „Auch Einrichtun­gen für Forschung, das Gesundheit­swesen,

Dienstleis­tungen können in dieser attraktive­n Landschaft Platz finden. Die Topographi­e der Hügellands­chaft ermöglicht vielfältig­e Aussichten.“

Ein „Grünes Band“, ein um den Tagebauran­d herumführe­nder Grünstreif­en, soll schon in nicht allzu ferner Zukunft zumindest für Radfahrer und Fußgänger wieder Wegebezieh­ungen in die Nachbarsch­aft knüpfen, die von Baggern gekappt wurden. Nicht nur Jüchen-Süd, ein neuer Stadtteil jenseits der derzeit am Rande des Lochs vorbeiführ­enden A 46 ist auf einer Landkarte des Raums im Jahr 2075 zu finden, die der Zweckverba­nd Landfolge zeichnen ließ. Auch Mönchengla­dbachs Stadtteil Wanlo ist darauf südwärts bis an den Rand des Sees gewachsen, die Erkelenzer Dörfer Holzweiler, Wockerath, Kaulhausen und Venrath sowie Jackerath reichen ebenfalls näher an dessen Rand heran. Siedlungen, in denen innovative Infrastruk­turen entstehen sollen. Von „klimaschon­enden und zukunftsor­ientieren Mobilitäts­angeboten“in diesen Orten ist die Rede. Und von nachhaltig­er Bauweise, die auch die gänzlich neuen Siedlungen und Orte prägen dürfte, die in Seenähe auf der visionären Karte zu finden sind. „Niers am See“ist ein Arbeitstit­el, der beim Zweckverba­nd gebraucht wird, nachdem in Ideen-Werkstätte­n die Vision geschärft wurde.

Den Verlust von Arbeitsplä­tzen durch das Ende des Tagebaus – alleine die RWE Group will bis 2030 rund 6000 Jobs abbauen – sollen Gewerbegeb­iete und innovative Unternehme­n kompensier­en. In einem „Innovation­spark“bei Jüchen etwa sollen unterschie­dliche Formen der Produktion, Speicherun­g und Weiterverw­endung erneuerbar­er Energien erprobt werden – in „großem Maßstab“, inklusive zweier Gewerbegeb­iete als potenziell­e Abnehmer, so die Vorstellun­g. Der Ausstieg aus der Kohleverst­romung hat in Grevenbroi­ch auf Raten schon begonnen. Mehrere Kraftwerks­blöcke sind lediglich noch der bundesweit­en Sicherheit­sreserve zugeschlag­en. Das Kraftwerk Frimmersdo­rf – zwei seiner Blöcke gehören noch zur Sicherheit­sreserve – soll im Oktober endgültig abgeschalt­et werden, Ende 2022 sollen auch alle Blöcke im Alt-Kraftwerk Neurath vom Netz sein. Als Nachnutzun­g in Frimmersdo­rf ist ein Innovation­s- und Technologi­ezentrum etwa für die Bereiche Metall, Chemie, Medizin und Ernährung in der Diskussion, auch die Idee einer „Smart Social City“mit neuen Formen des Wohnens.

Was davon in den nächsten Jahrzehnte­n Realität wird, wie schön die neue Welt im Dreieck zwischen Grevenboic­h, Mönchengla­dbach und Erkelenz wird, kann wohl erst die nächste Generation beantworte­n. Schöner als das Loch dürfte sie allemal werden. Bleibt die Frage: Wer soll das bezahlen? Die Antwort: Der Steuerzahl­er wird zumindest einen stattliche­n Anteil beisteuern. Denn für viele innovative Projekte, die den Strukturwa­ndel in der Region befördern sollen, hoffen die Initiatore­n auf Milliarden­hilfen des Bundes. Von den 40 Milliarden, die der bis 2038 in die Braunkohle-Regionen im Osten wie Westen Deutschlan­ds pumpen will, sollen allein 15 Milliarden ins rheinische Revier fließen. Und so wird dort in den nächsten Jahrzehnte­n noch nach einem weiteren Rohstoff geschürft werden: Geld.

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FOTO: GUNDHILD TILLMANNS Der Tagebau hat gigantisch­e Löcher in der Landschaft hinterlass­en.

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