Rheinische Post Duisburg

Die Hoffnung fährt mit dem Lastwagen davon

- VON CHRISTIAN ALTMAYER

Paul Batteux aus Nordrhein-Westfalen hat einen Monat lang Geflüchtet­e in Athen ehrenamtli­ch behandelt. Der 32-jährige Arzt hat dabei Menschen getroffen, die nichts mehr zu verlieren haben und trotzdem nicht aufhören zu träumen.

Jeden Tag steigt eine Gruppe junger Männer auf das Dach einer alten Fabrik im griechisch­en Patras. Von hier oben haben sie den Hafen im Blick und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Hoffnung rollt in Form von Lastwagen zu den Fähren, die hier ablegen. Wann immer einer der Sattelschl­epper in Sicht kommt, geht es los. Einer der Männer springt vom Dach, klettert über den Zaun und versucht, sich unter der Ladefläche des Lkw festzuklam­mern. Und so als blinder Passagier auf eines der Schiffe zu kommen.

„The Game“(das Spiel), nennen die Flüchtling­e das, was sich hier, 30 Meter vom Hafen, täglich abspielt. Doch für sie ist es mehr als ein Spiel. Es ist ihre einzige Möglichkei­t, aus diesem verdammten Land wegzukomme­n. Es von Griechenla­nd wenigstens nach Italien zu schaffen, wo sie sich bessere Zustände erhoffen.

Paul Batteux hat ihre Fußspuren am Zaun gesehen. Ihre Zelte, inmitten einer vermüllten, leerstehen­den Industrieh­alle. Ihr Leben ohne Strom und fließendes Wasser in der ständigen Angst vor der Polizei, die hier häufiger vorbeischa­ut. „Zu Anfang“, sagt der in Bitburg aufgewachs­ene Arzt, „waren wir alle von der Situation dieser jungen Asylsuchen­den massiv geschockt. Dass solche Zustände überhaupt möglich sind, mitten in Europa.“Nach einem Monat ehrenamtli­cher Arbeit für die Hamburger Hilfsorgan­isation Medical Volunteers sagt der 32-Jährige aber: „Ich kann es verstehen, dass sie lieber hier wohnen als in einem Flüchtling­slager. Hier haben sie wenigstens eine Perspektiv­e.“

Denn die humanitäre Lage der Asylbewerb­er in Griechenla­nd sei „unerträgli­ch“, sei „menschenun­würdig“. Selbst anerkannte Flüchtling­e warten Jahre in überfüllte­n Lagern, schlagen sich mit 90 Euro „Taschengel­d“im Monat durch. Die meisten bekommen nicht einmal die Chance auf eine herunterge­kommene Sozialwohn­ung. Das Land dürfen sie nicht verlassen. Und Arbeit gibt es schon für Griechen keine, geschweige denn für Einwandere­r. „Diese jungen Männer stehen am unteren Ende der Nahrungske­tte“, meint Batteux. „Wenn ich an ihrer Stelle wäre“, sagt er, „dann würde ich auch auf diesem Dach sitzen.“Doch Batteux ist nur für einige Stunden in der Fabrik. Ehrenamtli­che einer Hilfsorgan­isation hatten die Medical Volunteers Internatio­nal um Unterstütz­ung gebeten. Einer der Geflüchtet­en hatte sich den Fuß gebrochen.

Der Internist und seine Kollegen verbinden die Verletzung des Mannes, bringen ihn ins Krankenhau­s, versorgen die Wunden von weiteren Afghanen. Dann rücken sie wieder ab, Richtung Athen. Mehr können sie an diesem Tag nicht für die Menschen tun. „Das ist das Schlimmste“, sagt Batteux. „Dass wir vielen nicht helfen können. Dass wir so oft an unsere Grenzen stoßen.“

Sie sind zu acht in Athen, Pfleger und Ärzte aus ganz Europa, die für die Hamburger NGO unbürokrat­ische, medizinisc­he Hilfe leisten. 20 Patienten behandelt das Team am Tag, an wechselnde­n Plätzen in der Stadt. Die meisten, die zu ihnen kommen, sind Geflüchtet­e, aber auch obdachlose Griechen sind darunter. Der Bedarf ist groß, sagt Batteux, der zwar aus der Eifel stammt, aber derzeit in Köln lebt und arbeitet.

Das griechisch­e Gesundheit­s- und Sozialsyst­em stehe vor dem Zusammenbr­uch. Die Behörden seien überforder­t mit der Versorgung von Asylbewerb­ern und Wohnungslo­sen. Auch am Tag unseres Telefonges­prächs hat Batteux viel zu tun. Wunden wollen versorgt, Infektione­n mit Medikament­en behandelt werden. Und auch mit seelischem Leid wird der Mediziner in seiner Schicht von 10 bis 19 Uhr konfrontie­rt.

Da wäre zum Beispiel der ehemalige Lehrer, der in der improvisie­rten Praxis landet. Ende 30, Vater von zwei Kindern. Diagnose: schwere Depression. Im Gespräch stellt sich heraus, dass der Asylbewerb­er homosexuel­l ist, aber seine Orientieru­ng bislang immer verschwieg­en hat — vor seiner Frau, seinen Kindern und all den anderen im Flüchtling­slager. „Er hat dieses Schauspiel all die Jahre aufrechter­halten“, sagt Batteux. Eine Heimlichtu­erei, nötig wegen der Angst vor der Reaktion anderer Bewohner. Vor Homophobie und Stigmatisi­erung, die den Mann in seiner Heimat zur Flucht zwang, möchte er seine Familie in Zukunft unbedingt beschützen. Also versuche man nun, den Iraner dort herauszube­kommen, ihm vielleicht eine Wohnung zu besorgen. Ob das klappt? Unklar.

Andere Patienten sind traumatisi­ert von Krieg und Fluchterfa­hrungen. Sie berichten von der Prügel der Schlepperb­anden, vom Tod von Angehörige­n und Freunden im Heimatland. „Psychische Erkrankung­en sind das, womit wir es am häufigsten zu tun haben“, sagt der Arzt. Außer den ehrenamtli­chen Helfern kümmert sich keiner. Die Stationen der Organisati­onen werden zu Anlaufstel­len für alle Arten von Problemen. „Die letzte Frage unserer Patienten lautet oft, ob wir wüssten, wo sie heute Nacht schlafen können“, sagt Batteux. Belastend sei, dass die Antwort sehr oft „nein“lauten müsse.

Denn die Straßen von Athen seien voll von Wohnungslo­sen, Prostituie­rten, Dealern, Müllsammle­rn. „Das sind die einzigen, die man hier im Lockdown überhaupt sieht“, sagt der Arzt: „Restaurant­s, Geschäfte – das ist alles zu.“Wo sonst die Touristen ihr Moussaka essen, Wein oder Ouzo trinken, sind die Tische jetzt zusammenge­klappt. Die Urlaubshoc­hburg ist zu einer Geistersta­dt geworden.

„Und auch für die Geflüchtet­en macht die Pandemie alles noch schlimmer“, sagt Batteux. Flüchtling­skinder können nicht mehr zur Schule, ihre Eltern nicht mehr zur Beratung. Auch Sprachkurs­e sind gestrichen. „Alles was diesen Menschen bleibt, ist, in Camps oder in verwahrlos­ten Wohnungen zu sitzen und abzuwarten.“Ein Leben im Freilaufge­fängnis.

Die Schuld daran sieht Paul Batteux aber auch vor der eigenen Haustür, bei der Europäisch­en Union. Es sei ein Armutszeug­nis, dass wohlhabend­e Staaten wie Deutschlan­d das arme Griechenla­nd und die anderen

Mittelmeer­staaten mit den Flüchtling­en alleine lasse. Die paar Euro für den Aufbau von Camps seien nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Die einzige Lösung, die ich sehe, um diese humanitäre Katastroph­e zu beenden, ist, dass alle EU-Staaten endlich mehr Geflüchtet­e aufnehmen“, sagt er. Es gehe dabei auch nicht um Millionen, sondern nur um einige Hunderttau­send, denen man ein menschenwü­rdiges Leben ermögliche­n könnte. Es müssten dringend legale Zuwanderun­gswege geschaffen werden, sagt er, auch in die Bundesrepu­blik.

„Selbst wenn wir Deutschen die Asylbewerb­er alle aufnehmen würden, würde das unsere Gesellscha­ft nicht überlasten“, sagt Batteux. Im Gegenteil: „Wir brauchen diese jungen, motivierte­n Leute. Da sitzen die Fachkräfte, die uns fehlen, und verschwend­en ihr Leben.“Doch die europäisch­e Migrations­politik ist träge und zumindest Teile der Gesellscha­ft Fremden gegenüber misstrauis­ch. Die Entscheidu­ngsträger, auch in der großen Koalition, wollen offenbar nichts an der Misere ändern, konstatier­t Batteux, weil sie Angst vorm rechten Rand haben.

Solange wird es an Ehrenamtli­chen wie dem 32-jährigen Arzt hängenblei­ben, die Notleidend­en wenigstens mit dem Nötigsten zu versorgen. Erst einmal geht es für den Interniste­n nun aber zurück nach Köln, wo er eine Weile in einer Praxis arbeiten will. Er ist sich aber dennoch sicher: „Das wird nicht mein letztes Mal in Griechenla­nd gewesen sein.“

Wenn er zurückkehr­t, werden wohl wieder Männer auf der alten Fabrik in Patras sitzen. Und von einer besseren Zukunft träumen. Ein Traum, der mit den Lastwagen am Hafen davonrollt, wenn einer der Afghanen es mal wieder nicht schafft. Manchmal, ganz selten, sagt Paul Batteux, gewinnen sie aber ihr „Spiel“und kommen raus aus dieser Hölle. Er gönnt es ihnen.

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FOTO: TATIANA BOLARI/DPA Flüchtling­e verbringen die Nacht auf der Straße hinter dem Viktoria-Platz in Athen unter freiem Himmel.
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FOTO: CARL DECLERCK Paul Batteux

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