Die Hoffnung fährt mit dem Lastwagen davon
Paul Batteux aus Nordrhein-Westfalen hat einen Monat lang Geflüchtete in Athen ehrenamtlich behandelt. Der 32-jährige Arzt hat dabei Menschen getroffen, die nichts mehr zu verlieren haben und trotzdem nicht aufhören zu träumen.
Jeden Tag steigt eine Gruppe junger Männer auf das Dach einer alten Fabrik im griechischen Patras. Von hier oben haben sie den Hafen im Blick und die Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Hoffnung rollt in Form von Lastwagen zu den Fähren, die hier ablegen. Wann immer einer der Sattelschlepper in Sicht kommt, geht es los. Einer der Männer springt vom Dach, klettert über den Zaun und versucht, sich unter der Ladefläche des Lkw festzuklammern. Und so als blinder Passagier auf eines der Schiffe zu kommen.
„The Game“(das Spiel), nennen die Flüchtlinge das, was sich hier, 30 Meter vom Hafen, täglich abspielt. Doch für sie ist es mehr als ein Spiel. Es ist ihre einzige Möglichkeit, aus diesem verdammten Land wegzukommen. Es von Griechenland wenigstens nach Italien zu schaffen, wo sie sich bessere Zustände erhoffen.
Paul Batteux hat ihre Fußspuren am Zaun gesehen. Ihre Zelte, inmitten einer vermüllten, leerstehenden Industriehalle. Ihr Leben ohne Strom und fließendes Wasser in der ständigen Angst vor der Polizei, die hier häufiger vorbeischaut. „Zu Anfang“, sagt der in Bitburg aufgewachsene Arzt, „waren wir alle von der Situation dieser jungen Asylsuchenden massiv geschockt. Dass solche Zustände überhaupt möglich sind, mitten in Europa.“Nach einem Monat ehrenamtlicher Arbeit für die Hamburger Hilfsorganisation Medical Volunteers sagt der 32-Jährige aber: „Ich kann es verstehen, dass sie lieber hier wohnen als in einem Flüchtlingslager. Hier haben sie wenigstens eine Perspektive.“
Denn die humanitäre Lage der Asylbewerber in Griechenland sei „unerträglich“, sei „menschenunwürdig“. Selbst anerkannte Flüchtlinge warten Jahre in überfüllten Lagern, schlagen sich mit 90 Euro „Taschengeld“im Monat durch. Die meisten bekommen nicht einmal die Chance auf eine heruntergekommene Sozialwohnung. Das Land dürfen sie nicht verlassen. Und Arbeit gibt es schon für Griechen keine, geschweige denn für Einwanderer. „Diese jungen Männer stehen am unteren Ende der Nahrungskette“, meint Batteux. „Wenn ich an ihrer Stelle wäre“, sagt er, „dann würde ich auch auf diesem Dach sitzen.“Doch Batteux ist nur für einige Stunden in der Fabrik. Ehrenamtliche einer Hilfsorganisation hatten die Medical Volunteers International um Unterstützung gebeten. Einer der Geflüchteten hatte sich den Fuß gebrochen.
Der Internist und seine Kollegen verbinden die Verletzung des Mannes, bringen ihn ins Krankenhaus, versorgen die Wunden von weiteren Afghanen. Dann rücken sie wieder ab, Richtung Athen. Mehr können sie an diesem Tag nicht für die Menschen tun. „Das ist das Schlimmste“, sagt Batteux. „Dass wir vielen nicht helfen können. Dass wir so oft an unsere Grenzen stoßen.“
Sie sind zu acht in Athen, Pfleger und Ärzte aus ganz Europa, die für die Hamburger NGO unbürokratische, medizinische Hilfe leisten. 20 Patienten behandelt das Team am Tag, an wechselnden Plätzen in der Stadt. Die meisten, die zu ihnen kommen, sind Geflüchtete, aber auch obdachlose Griechen sind darunter. Der Bedarf ist groß, sagt Batteux, der zwar aus der Eifel stammt, aber derzeit in Köln lebt und arbeitet.
Das griechische Gesundheits- und Sozialsystem stehe vor dem Zusammenbruch. Die Behörden seien überfordert mit der Versorgung von Asylbewerbern und Wohnungslosen. Auch am Tag unseres Telefongesprächs hat Batteux viel zu tun. Wunden wollen versorgt, Infektionen mit Medikamenten behandelt werden. Und auch mit seelischem Leid wird der Mediziner in seiner Schicht von 10 bis 19 Uhr konfrontiert.
Da wäre zum Beispiel der ehemalige Lehrer, der in der improvisierten Praxis landet. Ende 30, Vater von zwei Kindern. Diagnose: schwere Depression. Im Gespräch stellt sich heraus, dass der Asylbewerber homosexuell ist, aber seine Orientierung bislang immer verschwiegen hat — vor seiner Frau, seinen Kindern und all den anderen im Flüchtlingslager. „Er hat dieses Schauspiel all die Jahre aufrechterhalten“, sagt Batteux. Eine Heimlichtuerei, nötig wegen der Angst vor der Reaktion anderer Bewohner. Vor Homophobie und Stigmatisierung, die den Mann in seiner Heimat zur Flucht zwang, möchte er seine Familie in Zukunft unbedingt beschützen. Also versuche man nun, den Iraner dort herauszubekommen, ihm vielleicht eine Wohnung zu besorgen. Ob das klappt? Unklar.
Andere Patienten sind traumatisiert von Krieg und Fluchterfahrungen. Sie berichten von der Prügel der Schlepperbanden, vom Tod von Angehörigen und Freunden im Heimatland. „Psychische Erkrankungen sind das, womit wir es am häufigsten zu tun haben“, sagt der Arzt. Außer den ehrenamtlichen Helfern kümmert sich keiner. Die Stationen der Organisationen werden zu Anlaufstellen für alle Arten von Problemen. „Die letzte Frage unserer Patienten lautet oft, ob wir wüssten, wo sie heute Nacht schlafen können“, sagt Batteux. Belastend sei, dass die Antwort sehr oft „nein“lauten müsse.
Denn die Straßen von Athen seien voll von Wohnungslosen, Prostituierten, Dealern, Müllsammlern. „Das sind die einzigen, die man hier im Lockdown überhaupt sieht“, sagt der Arzt: „Restaurants, Geschäfte – das ist alles zu.“Wo sonst die Touristen ihr Moussaka essen, Wein oder Ouzo trinken, sind die Tische jetzt zusammengeklappt. Die Urlaubshochburg ist zu einer Geisterstadt geworden.
„Und auch für die Geflüchteten macht die Pandemie alles noch schlimmer“, sagt Batteux. Flüchtlingskinder können nicht mehr zur Schule, ihre Eltern nicht mehr zur Beratung. Auch Sprachkurse sind gestrichen. „Alles was diesen Menschen bleibt, ist, in Camps oder in verwahrlosten Wohnungen zu sitzen und abzuwarten.“Ein Leben im Freilaufgefängnis.
Die Schuld daran sieht Paul Batteux aber auch vor der eigenen Haustür, bei der Europäischen Union. Es sei ein Armutszeugnis, dass wohlhabende Staaten wie Deutschland das arme Griechenland und die anderen
Mittelmeerstaaten mit den Flüchtlingen alleine lasse. Die paar Euro für den Aufbau von Camps seien nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Die einzige Lösung, die ich sehe, um diese humanitäre Katastrophe zu beenden, ist, dass alle EU-Staaten endlich mehr Geflüchtete aufnehmen“, sagt er. Es gehe dabei auch nicht um Millionen, sondern nur um einige Hunderttausend, denen man ein menschenwürdiges Leben ermöglichen könnte. Es müssten dringend legale Zuwanderungswege geschaffen werden, sagt er, auch in die Bundesrepublik.
„Selbst wenn wir Deutschen die Asylbewerber alle aufnehmen würden, würde das unsere Gesellschaft nicht überlasten“, sagt Batteux. Im Gegenteil: „Wir brauchen diese jungen, motivierten Leute. Da sitzen die Fachkräfte, die uns fehlen, und verschwenden ihr Leben.“Doch die europäische Migrationspolitik ist träge und zumindest Teile der Gesellschaft Fremden gegenüber misstrauisch. Die Entscheidungsträger, auch in der großen Koalition, wollen offenbar nichts an der Misere ändern, konstatiert Batteux, weil sie Angst vorm rechten Rand haben.
Solange wird es an Ehrenamtlichen wie dem 32-jährigen Arzt hängenbleiben, die Notleidenden wenigstens mit dem Nötigsten zu versorgen. Erst einmal geht es für den Internisten nun aber zurück nach Köln, wo er eine Weile in einer Praxis arbeiten will. Er ist sich aber dennoch sicher: „Das wird nicht mein letztes Mal in Griechenland gewesen sein.“
Wenn er zurückkehrt, werden wohl wieder Männer auf der alten Fabrik in Patras sitzen. Und von einer besseren Zukunft träumen. Ein Traum, der mit den Lastwagen am Hafen davonrollt, wenn einer der Afghanen es mal wieder nicht schafft. Manchmal, ganz selten, sagt Paul Batteux, gewinnen sie aber ihr „Spiel“und kommen raus aus dieser Hölle. Er gönnt es ihnen.