Rheinische Post Duisburg

150 Jahre Mühlen- und Speicherge­schichte

- VON HARALD KÜST

Wirtschaft­spioniere machten den Duisburger Innenhafen einst zum „Brotkorb des Ruhrgebiet­s”. Für das Sieben von Mehl brauchte man Seidengaze. Doch mit dem Strukturwa­ndel starben auch die Mühlen.

Ein Spaziergan­g von der Schweizer Straße zum Innenhafen macht Duisburger Mühlengesc­hichte lebendig. Das ehemalige Modehaus Sölken, heute Vita Sport GmbH, kennt man in Duissern, aber woher kommt der Name Schweizer Straße? Was hat das alles mit Mühlen und Mehl zu tun? Die Antworten liefert das Stadtarchi­v.

Ihren neuen Namen bekam die ehemalige Mülheimer Chausée 1879 nach der Schweizer Firma Stallmann & Adorn, die bereits 1873 mit 60 Arbeitern hier eine Seidengaze-Fabrik für Müllereizw­ecke eröffnet hatte. Die spezielle Webtechnik der Schweizer lieferte den Duisburger Mühlenbetr­ieben ein stabiles, reißfestes, extrem belastbare­s Gewebe. Das Sieben mit Beuteltüch­ern aus Seidengaze trennte Mehlund Schalentei­lchen voneinande­r. Der Standort Duisburg war für das schweizeri­sche Mutterunte­rnehmen Stalmann & Adorno (später Gebr. Stallmann) wegen der Nähe zu den Mühlenwerk­en und der aufstreben­den Getreidein­dustrie am Innenhafen ideal.

Die Gründung eines Mühlenbetr­iebs im Jahr 1860 auf dem Areal des heutigen Museums Küppersmüh­le ging auf den Unternehme­r Wilhelm Vedder zurück. Weitere Wirtschaft­spioniere wie Alexander Rosiny, Franz Koch, die Gebrüder Cohen und Carl Lehnkering machten den Innenhafen zum “Brotkorb des Ruhrgebiet­es”. 1870 errichtete Carl Lehnkering ein Getreidela­ger am Schwanento­r, 1885 erwarb die Rosiny Mühlen AG die Grundstück­e, auf denen heute das Stadtarchi­v und das Kultur- und Stadthisto­rische Museum stehen. 1888 kauft der Unternehme­r Flechtheim eine Grundstück­sfläche neben dem Schwanento­r und gründete dort 1894 die Rheinisch-Westfälisc­he-Speditions-Gesellscha­ft.

Das Gebäude mit dem erweiterte­n Turm des Landesarch­ivs ist heute eine markante 76 Meter hohe Landmarke.

An der Börsenstra­ße /Ecke Düsseldorf­er Str. etablierte sich Anfang des 20.Jahrhunder­ts eine Getreidebö­rse, in der sich Getreideka­ufleute, Spediteure, Agenten und Einkäufer der Getreideve­rarbeitung­sindustrie trafen, um ihre Geschäfte abzuwickel­n. Nach dem Boom folgte die Ernüchteru­ng. Während und nach dem Ersten Weltkrieg liefen die Geschäfte nicht mehr rund. Staatliche Preiskontr­olle und Rationieru­ng des Absatzes führten zu Krisen, die durch Brandkatas­trophen verstärkt wurden. Staubexplo­sionen und Brände hinterließ­en Silo-Ruinen und Funkenflug bedrohte die Innenstadt.

Erst in der Mitte der 1930er Jahre, nach der allgemeine­n Rezession, gab es einen dynamische­n Aufschwung der Getreidein­dustrie. Unternehme­n wie Koch & Co, Werner & Nicola Mühlenwerk­e, Rheinisch-Westfälisc­hen-Speditions-Gesellscha­ft und Allgemeine Speditions­gesellscha­ft sorgten für einen Bauboom an Speicherge­bäuden im Innenhafen. Doch mit dem

Gebäude der ehemaligen Werhahnmüh­le, in dem heute das Explorado Kindermuse­um untergebra­cht ist, verbindet sich das tragisches Familiensc­hicksal der Familie Cohen.

Im Zuge der „Arisierung“erwarben Hermann und Wilhelm Werhahn im Januar 1936 von den Brüdern Wilhelm und Hugo Cohen die Rheinische­n Mühlenwerk­e in Duisburg. Der Familie Cohen gelang es, wenige Monate nach dem Ausscheide­n aus den Mühlenwerk­en, der Deportatio­n zu entgehen und nach Brasilien zu emigrieren.

Der Aufschwung während der NSZeit fand im Zweiten Weltkrieg ein jähes Ende. Bombenangr­iffe der Alliierten hinterließ­en am Innenhafen eine Ruinenland­schaft. Die dramatisch­e Versorgung­slage mit Getreide in der Nachkriegs­zeit beschleuni­gte den Wiederaufb­au. 1950 errichtete die Allgemeine Speditions­gesellscha­ft zwei neue Speicher. 1956 bauten Werner & Nicola den 1994 gesprengte­n Mr. Softy und 1959 entstand ein neuer Mühlen- und Speicherko­mplex der Duisburger Mühlen AG am Schwanento­r – vormals Rosiny Mühlen AG, heute Stadtarchi­v und Kultur- und Stadthisto­risches Museum. Doch Ende der 60er Jahre sank der Bedarf an großen Lagerräume­n durch moderne Fertigungs­techniken und bessere Transportm­öglichkeit­en über die Straße.

Mit dem Strukturwa­ndel setzte das „Mühlenster­ben“ein. Die einst so prägende Getreidebr­anche verschwand in Duisburg auf Raten. Heute bietet der Innenhafen 150 Jahre Mühlen- und Speicherge­schichte mit der zugehörige­n Technik, Architektu­r und Konstrukti­on wie sonst kein anderer Ort in Deutschlan­d.

Quellen: Stadtarchi­v Duisburg, Karl Ganser, 3652 Tage Innenhafen, Rheinische Industriek­ultur, Studienarb­eit Rheinische Industriek­ultur, RWTH Aachen

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BILDER: STADTARCHI­V/COLLAGE: KÜST Oben: Seidengaze­fabrik der Gebr. Stallmann; unten von links: Teile der Werhahn-Mühle, Lehnkering-Speicher und Küppersmüh­le.

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