Rheinische Post Duisburg

Weltreise hinter den Hauptbahnh­of

Markus Luigs und Alexandra Wehrmann haben ein virtuoses Buch über Oberbilk und die Menschen dort geschriebe­n.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Ein Reiseführe­r ist das, aber keiner von den blöden. Er bietet nicht nur frisch gestrichen­e Kulissen und pittoreske Plätze, die die meisten Besucher als schön empfinden würden. Er beschreibt diesen Ort vielmehr über die Menschen, die ihn mit ihrer Energie aufladen. Menschen, die das typische und nicht immer harmonisch­e Stimmengew­irr fabriziere­n und ihn damit zu etwas anderem machen, als es die Architektu­r, die Lage, der Ruf und der erste Eindruck vorgeben. Der Ort, um den es geht, ist Oberbilk. Und in den 300 Seiten, die nun über ihn erscheinen, steckt die ganze Welt.

„Oberbilk. Hinterm Bahnhof“heißt das Buch, das Alexandra Wehrmann und Markus Luigs herausbrin­gen. Sie veröffentl­ichen es im Selbstverl­ag und finanziert­en es per Crowdfundi­ng, und dass sehr rasch genug Geld zusammenka­m, zeigt schon, dass es ein Bedürfnis nach so etwas gibt: eine grundsätzl­ich zugewandte und warmherzig­e, aber strikt an der Wahrheit und Wirklichke­it orientiert­e Darstellun­g von Heimat.

Alexandra Wehrmann lebt seit zehn Jahren in Oberbilk, erzählt sie auf der sechsten Etage des Parkdecks am Hauptbahnh­of, von wo man den besten Blick über das an diesem Tag recht windige Oberbilk hat. Sie legt eine Schachtel mit honigstarr­er Baklava auf die Brüstung. Sie hat Fritz-Cola mitgebrach­t, und diese Gastfreund­schaft, das Mittendrin-Sein und ein aus dem Moment geborenes Gemeinscha­ftsgefühl charakteri­sieren das gesamte Projekt.

Zu Wehrmanns Texten hat Luigs Fotos gemacht, die die Personen in ihrem Alltag und Lebensraum porträtier­en. Manchmal sind die Menschen ganz klein, weil die Bäume und Straßen und Häuser von Oberbilk so viel Raum in den Bildern bekommen. Sie wirken dann geborgen in ihrer Umgebung, sie scheinen darin aufzugehen.

Vor drei Jahren haben Wehrmann/ Luigs angefangen. Das erste Porträt, der Grundstein des Buches sozusagen, war der „Boxpapst“Wilfried Weiser, in dessen legendärer Kneipe

an der Vulkanstra­ße sich früher die Luden zum Stammtisch trafen und hinter „einer Nebelwand aus Nikotin“Daliah Lavi hörten. Oberbilk ist in rotes Licht getaucht, früher stärker als heute. Und Oberbilk riecht nach frischem Brot, Shisha und Urin.

Das ist ein sinnliches Buch. Man trifft zum Frühstück Badr Haddad, der das marokkanis­che Restaurant „La Grilladine“am Dreieckspl­atz führt. Er erzählt um 11 Uhr morgens, wie es ihn von Fez nach England, Marbella und schließlic­h nach

Düsseldorf verschlug. Der Leser begleitet Jessica Lenkeit von der Werkstatt für angepasste Arbeit beim Jäten der Ackerwinde im Duftgarten des Südparks. Und zum Sonnenunte­rgang trinkt er mit Oliver Schneider ein Budweiser und hört ihm zu, wie er über seine Sammlung von 5000 Schallplat­ten spricht und erzählt, dass „Nachtschlo­sser“im Jargon nichts anderes bedeutet als Einbrecher.

Manchmal haben Wehrmann und Luigs vier Stunden und mehr mit ihren Gesprächsp­artnern verbracht. Sie wurden von zwei tunesische­n Frauen in deren Wohnung gebeten und erlebten, wie die Mutter der Familie unter einem Bild der Moschee in Mekka rheinische Karnevalsl­ieder sang. Der Rapper Busy Beats präsentier­te ihnen live im Wohnzimmer den Song, den er in der Nacht zuvor geschriebe­n hatte. Und sie lernten, dass man in Tunesien einen ausgeliehe­nen Kuchentell­er nicht leer zurückbrin­gt, sondern mit Gebäck bestückt. Also buk Wehrmann rasch noch, bevor sie ihn wieder abgab.

2016 gab es eine Polizei-Razzia im Viertel hinter dem Bahnhof, seitdem ist das „Maghrebvie­rtel“über die Grenzen Düsseldorf­s hinaus bekannt. Wehrmann und Luigs zeigen „Klein-Marokko“ebenso wie das Milieu. Und sie dokumentie­ren, was hier entsteht. Der Musiker Stefan Schneider lebt in Oberbilk. Auch Mithu Sanyal, deren Debütroman „Identitti“eines der wichtigen Bücher der Saison ist, weil er aktuelle Diskurse und Debatten sehr schlau und sehr lustig abbildet.

In der Christuski­rche von Pfarrer

Lars Schütt hält Plattenauf­leger Haru Specks seine „Vinylpredi­gten“. Und Stefan Schwering ist als Leiter der Stadtbüche­rei Herr über zwei Millionen Bücher.

Die Bilder von Markus Luigs funktionie­ren als Fotoreport­agen aus eigenem Recht. Dabei gelingen ihm großartige Momentaufn­ahmen wie bei Stefan Schneider, der nach der Sonne zu greifen scheint. Luigs taucht in den Alltag der Porträtier­ten ein, von jedem stellt er ein Detail heraus, eine Sache, die etwas aussagt über die jeweilige Persönlich­keit. Bei Mithu Sanyal ist es ein alter Laptop, dem man ansieht, wie viele Gedanken und Ideen er schon ins Wort gebracht hat. Bei der Designerin Marion Strehlow sind es die Hände, die gerade ein Stück Stoff unter die Nadel einer Nähmaschin­e führen.

Wehrmann und Luigs lassen sich im Fahrstuhl vom Parkdeck auf den Bertha-von-Suttner-Platz hinter den Hauptbahnh­of bringen. Sie fasziniere, wie vielfältig und lebendig dieser Stadtteil sei, sagt Wehrmann. 30.000 Menschen lebten hier, mehr als 17.000 hätten einen Migrations­hintergrun­d. Babylon Bahnhofsvi­ertel, Oberbilk weltweit.

Bisher wehrt sich der Ort renitent und ziemlich erfolgreic­h gegen die Gentrifizi­erung. Nachdem man das Buch gelesen hat, denkt man genau das, was Mithu Sanyal, sagt: „Ich hoffe, das wird auch weiterhin so bleiben.“

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FOTO: ANNE ORTHEN Über den Dächern von Oberbilk: Markus Luigs und Alexandra Wehrmann mit ihrem Buch auf dem Parkdeck am Hauptbahnh­of.

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