Weltreise hinter den Hauptbahnhof
Markus Luigs und Alexandra Wehrmann haben ein virtuoses Buch über Oberbilk und die Menschen dort geschrieben.
DÜSSELDORF Ein Reiseführer ist das, aber keiner von den blöden. Er bietet nicht nur frisch gestrichene Kulissen und pittoreske Plätze, die die meisten Besucher als schön empfinden würden. Er beschreibt diesen Ort vielmehr über die Menschen, die ihn mit ihrer Energie aufladen. Menschen, die das typische und nicht immer harmonische Stimmengewirr fabrizieren und ihn damit zu etwas anderem machen, als es die Architektur, die Lage, der Ruf und der erste Eindruck vorgeben. Der Ort, um den es geht, ist Oberbilk. Und in den 300 Seiten, die nun über ihn erscheinen, steckt die ganze Welt.
„Oberbilk. Hinterm Bahnhof“heißt das Buch, das Alexandra Wehrmann und Markus Luigs herausbringen. Sie veröffentlichen es im Selbstverlag und finanzierten es per Crowdfunding, und dass sehr rasch genug Geld zusammenkam, zeigt schon, dass es ein Bedürfnis nach so etwas gibt: eine grundsätzlich zugewandte und warmherzige, aber strikt an der Wahrheit und Wirklichkeit orientierte Darstellung von Heimat.
Alexandra Wehrmann lebt seit zehn Jahren in Oberbilk, erzählt sie auf der sechsten Etage des Parkdecks am Hauptbahnhof, von wo man den besten Blick über das an diesem Tag recht windige Oberbilk hat. Sie legt eine Schachtel mit honigstarrer Baklava auf die Brüstung. Sie hat Fritz-Cola mitgebracht, und diese Gastfreundschaft, das Mittendrin-Sein und ein aus dem Moment geborenes Gemeinschaftsgefühl charakterisieren das gesamte Projekt.
Zu Wehrmanns Texten hat Luigs Fotos gemacht, die die Personen in ihrem Alltag und Lebensraum porträtieren. Manchmal sind die Menschen ganz klein, weil die Bäume und Straßen und Häuser von Oberbilk so viel Raum in den Bildern bekommen. Sie wirken dann geborgen in ihrer Umgebung, sie scheinen darin aufzugehen.
Vor drei Jahren haben Wehrmann/ Luigs angefangen. Das erste Porträt, der Grundstein des Buches sozusagen, war der „Boxpapst“Wilfried Weiser, in dessen legendärer Kneipe
an der Vulkanstraße sich früher die Luden zum Stammtisch trafen und hinter „einer Nebelwand aus Nikotin“Daliah Lavi hörten. Oberbilk ist in rotes Licht getaucht, früher stärker als heute. Und Oberbilk riecht nach frischem Brot, Shisha und Urin.
Das ist ein sinnliches Buch. Man trifft zum Frühstück Badr Haddad, der das marokkanische Restaurant „La Grilladine“am Dreiecksplatz führt. Er erzählt um 11 Uhr morgens, wie es ihn von Fez nach England, Marbella und schließlich nach
Düsseldorf verschlug. Der Leser begleitet Jessica Lenkeit von der Werkstatt für angepasste Arbeit beim Jäten der Ackerwinde im Duftgarten des Südparks. Und zum Sonnenuntergang trinkt er mit Oliver Schneider ein Budweiser und hört ihm zu, wie er über seine Sammlung von 5000 Schallplatten spricht und erzählt, dass „Nachtschlosser“im Jargon nichts anderes bedeutet als Einbrecher.
Manchmal haben Wehrmann und Luigs vier Stunden und mehr mit ihren Gesprächspartnern verbracht. Sie wurden von zwei tunesischen Frauen in deren Wohnung gebeten und erlebten, wie die Mutter der Familie unter einem Bild der Moschee in Mekka rheinische Karnevalslieder sang. Der Rapper Busy Beats präsentierte ihnen live im Wohnzimmer den Song, den er in der Nacht zuvor geschrieben hatte. Und sie lernten, dass man in Tunesien einen ausgeliehenen Kuchenteller nicht leer zurückbringt, sondern mit Gebäck bestückt. Also buk Wehrmann rasch noch, bevor sie ihn wieder abgab.
2016 gab es eine Polizei-Razzia im Viertel hinter dem Bahnhof, seitdem ist das „Maghrebviertel“über die Grenzen Düsseldorfs hinaus bekannt. Wehrmann und Luigs zeigen „Klein-Marokko“ebenso wie das Milieu. Und sie dokumentieren, was hier entsteht. Der Musiker Stefan Schneider lebt in Oberbilk. Auch Mithu Sanyal, deren Debütroman „Identitti“eines der wichtigen Bücher der Saison ist, weil er aktuelle Diskurse und Debatten sehr schlau und sehr lustig abbildet.
In der Christuskirche von Pfarrer
Lars Schütt hält Plattenaufleger Haru Specks seine „Vinylpredigten“. Und Stefan Schwering ist als Leiter der Stadtbücherei Herr über zwei Millionen Bücher.
Die Bilder von Markus Luigs funktionieren als Fotoreportagen aus eigenem Recht. Dabei gelingen ihm großartige Momentaufnahmen wie bei Stefan Schneider, der nach der Sonne zu greifen scheint. Luigs taucht in den Alltag der Porträtierten ein, von jedem stellt er ein Detail heraus, eine Sache, die etwas aussagt über die jeweilige Persönlichkeit. Bei Mithu Sanyal ist es ein alter Laptop, dem man ansieht, wie viele Gedanken und Ideen er schon ins Wort gebracht hat. Bei der Designerin Marion Strehlow sind es die Hände, die gerade ein Stück Stoff unter die Nadel einer Nähmaschine führen.
Wehrmann und Luigs lassen sich im Fahrstuhl vom Parkdeck auf den Bertha-von-Suttner-Platz hinter den Hauptbahnhof bringen. Sie fasziniere, wie vielfältig und lebendig dieser Stadtteil sei, sagt Wehrmann. 30.000 Menschen lebten hier, mehr als 17.000 hätten einen Migrationshintergrund. Babylon Bahnhofsviertel, Oberbilk weltweit.
Bisher wehrt sich der Ort renitent und ziemlich erfolgreich gegen die Gentrifizierung. Nachdem man das Buch gelesen hat, denkt man genau das, was Mithu Sanyal, sagt: „Ich hoffe, das wird auch weiterhin so bleiben.“