„Ich bin einfach froh, dass ich noch lebe“
Am Eingang wartet ein frisches Bett, eingepackt in Plastikfolie, es ist noch nicht so lange frei. „Für den nächsten Covid-Patienten“, hat jemand mit einem Stift auf ein Blatt Papier geschrieben. Man weiß nie, wie schnell hier wieder einer durch die Tür gefahren wird, sagt ein Pfleger.
Der junge Mann meint die Tür, auf der „Kein Zutritt“steht, hinter der Station 05 beginnt, die Intensivstation des Johanniter Krankenhauses in Duisburg-Rheinhausen. 16 Betten hat die Station, zehn sind für Covid-Patienten reserviert, sieben davon derzeit belegt. Ende April war die Lage noch schlimmer, sagt Chefarzt Karlheinz Lüdtke. „An einem Tag wurden allein zwölf Covid-Patienten in die Klinik gebracht“. Glücklicherweise mussten sie nicht alle auf die Intensivstation.
Die Johanniter betreiben im Westen der Stadt nur ein kleines Krankenhaus. 75 Männer und Frauen wurden hier seit Beginn der Pandemie mit einer Corona-Infektion intensivmedizinisch behandelt. Etwa ein Drittel von ihnen hat es nicht geschafft. Lüdtke sagt, Covid-19 sei vor allem eins: unberechenbar. Der Zustand eines Patienten kann sich rasant verschlechtern. Manche, die hier ankommen, müssen sofort an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden. Andere sterben, die Organe versagen plötzlich, obwohl ihr Zustand vor ein paar Stunden noch gut war. Und wieder andere liegen hier 90 Tage im Bett, überleben. „Prognosen waren selten so schwierig, wie bei diesem Virus“, sagt der Chefarzt.
Die Station ist in zwei Bereiche geteilt. Es gibt einen isolierten Flur, auf dem die Covid-Patienten liegen und der nur mit Schutzkleidung betreten werden darf. Und es gibt den normalen Intensivbereich, auf dem neben anderen Notfällen auch ehemalige Infizierte, die mittlerweile negativ getestet sind, versorgt werden. Wenn gar nichts mehr geht, sagt Lüdtke, könnten sie aber die komplette Station isolieren. Bislang
ist das nur ein Notfallplan.
Links, rechts, geradeaus, durch die Station führen drei lange Gänge, blanker Boden, alle paar Meter kommt eine Schiebetür. Aus einem der Zimmer zischt es. Es ist das Geräusch, das entsteht, wenn ein Mensch nicht mehr alleine atmen kann und der Sauerstoff durch einen Schlauch in eine Maske rauscht, damit er nicht erstickt. Man vergisst dieses Geräusch nicht so schnell.
Ein Donnerstag Anfang Mai. Michael Grawley, 48, und Swen Schelnhammer-Sting, 46, sind seit sechs Uhr morgens im Dienst, gleich haben sie Feierabend. Die Männer teilen sich die Leitung des Pflegedienstes, beide haben fast 20 Jahren Erfahrung auf Intensivstationen. Seit das Virus da draußen in der Welt unterwegs ist, sind die Schichten härter geworden, sagen sie. “Wenn man abends nach Hause kommt, dann weiß man, was man getan hat“, sagt Grawley. Und wenn ein Mensch stirbt und die Angehörigen
gerufen werden und wenn sie dann stehen und schreien, weil sie mehr als 50 Jahre verheiratet waren, ja, dann sei das hart, sagt der Pfleger. „Manchmal kommen uns auch die Tränen, natürlich.“
Das Personal arbeitet in drei Schichten. Früh-, Spät und Nachtschicht. Jeder Pfleger ist für zwei, an schlechten Tagen auch mal für drei Patienten verantwortlich. Sie müssen gewaschen und gefüttert, wenn die Lunge zu stark geschädigt ist, auch alle paar Stunden auf den Bauch gedreht werden. Sie bekommen Medikamente und regelmäßig wird ihnen Blut abgenommen. Jungen Kollegen wird immer ein älterer zur Seite gestellt. An einem Bildschirm in jedem Zimmer können die Pfleger die Vitalwerte kontrollieren. Wie geht es der Lunge? Wie viele Atemzüge schafft der Patient noch pro Minute? Wie viel Sauerstoff ist im Blut?
Es gibt im Grunde zwei Methoden, wie man Covid-Patienten behandelt:
„Manchmal kommen
uns auch die Tränen, natürlich“Michael Gawley Pflegedienstleitung
Low Care und High Care. Low Care bedeutet: Man setzt ihnen auf Mund und Nase eine Atemmaske, die ihnen Sauerstoff zuführt. Reicht das nicht, muss die Lunge komplett über eine Maschine versorgt werden. Der Patient wird zeitweise in ein künstliches Koma versetzt und beatmet – High Care. Genesene berichten von einem traumähnlichen Zustand. Manche Patienten werden dabei auf den Bauch gedreht, damit die Luft tiefer in die Lunge strömen kann.
Generell gibt es auch auf der Intensivstation der Johanniter derzeit ein Besuchsverbot. Doch die Klinik macht Ausnahmen, etwa wenn jemand im Sterben liegt oder schon besonders lange auf der Station ist. Einmal, erzählt Pfleger Schelnhammer-Sting, kam mittags ein Vater, der unbedingt darauf bestand, seinen Sohn füttern zu dürfen. Er durfte. „Oft wollen natürlich mehrere Leute auf einmal kommen, aber das können wir wirklich nicht erlauben.“Deshalb klingelt nun mehrmals am Tag das Telefon. Verwandte wollen wissen, wie es ihren Liebsten geht. Mittlerweile werden die Nummern notiert, einer aus dem Team ruft nachmittags alle zurück.
Bevor Grawley und Schelnhammer-Sting machen nach Hause fahren, besuchen sie noch eine Patientin. In Zimmer 1 liegt Dagmar Bühler, 56 Jahre. Sie schaut Fernsehen, die Trödel-Show „Bares für Rares“läuft, Horst Lichter bestaunt gerade einen alten Lenkschlitten. Auf ihrem Nachtisch steht ein Bild der Familie. „Ich bin einfach froh, dass ich noch lebe“, sagt sie. Sie habe sich immer an alle Regeln gehalten. Wie sie sich infiziert hat, weiß sie nicht. Mittlerweile ist sie negativ, das Virus ist in ihrem Körper nicht mehr nachweisbar, sie wird nicht mehr isoliert.
Am Wochenende kann Bühler auf die Normalstation gebracht werden, hofft sie. Es war knapp, sagen auch die Pfleger. Als sie ihr Zimmer verlassen, den Gang zurück zum Ausgang, steht da plötzlich eine Kollegin und hält eine Torte in der Hand. Die Mutter von Dagmar Bühler hat sie hier abgeben. Sie wollte einfach nur Danke sagen.
Dagmar Bühler
Patientin