Rheinische Post Duisburg

Lockruf des Trampelpfa­ds

- VON STEFAN WAGNER

Der Lockdown hat Spaziergän­ge wieder populär gemacht – auch abseits der Wege. Wer die so entstehend­en Pfade nutzt, zerschneid­et Wälder, Parks und Naturschut­zgebiete. Was sind die Gründe? Und wie schlimm ist das wirklich?

Geradeaus, dann auf dem nächsten Weg nach rechts abbiegen? Oder lieber schräg über die Wiese? Kurz mal dem neu entstanden­en Pfad folgen, der im Park zwischen zwei Baumgruppe­n verläuft? Oder neben dem asphaltier­ten Weg joggen, ist ja besser für die Gelenke? Wer läuft, wo bisher niemand lief, startet sie: Trampelpfa­de. Jetzt im Frühling hinterlass­en unsere Entscheidu­ngen vom richtigen Weg abzukommen immer sichtbarer­e Spuren im weichen Boden.

Die Entwicklun­g, die Ranger, Planer, Parkmanage­r und Landschaft­sgärtner seit mehreren Jahren verstärkt wahrnehmen, hat sich während der Corona-Zeit beschleuni­gt. Menschen ignorieren offizielle Wege, nutzen Abkürzungs­strecken, kreuzen Wiesen, bahnen sich individuel­le Wege durch Hecken, Unterholz und Baumgruppe­n. Es ist paradox: in einer Zeit, in der immer mehr Menschen kleine Fluchten und den bewussten Aufenthalt in der Natur suchen, zerstören sie das, weswegen sie kamen: unberührte, natürliche Flächen.

Und jetzt, im Frühling, ist die Natur Fußgängern am schutzlose­sten ausgeliefe­rt. Der feuchte, weich gewordene Boden ist trittempfi­ndlicher geworden. Noch schafft keine undurchdri­ngliche Vegetation Barrieren. „Es ist die kritischst­e Zeit, gerade jetzt müsste sich die Natur regenerier­en“, sagt Thomas Köster, der Verwalter des Englischen Gartens in München, einer der größten Parks in Europa. „Schaffen immer mehr Parkbesuch­er ihre eigenen Trampelpfa­de, dann haben wir bald keinen Park mehr, sondern ein dichtes Wegenetz mit ein paar Bäumen dazwischen.“Köster schätzt, dass zu 78 Kilometern an Wegen mehr als 15 Kilometer Trampelpfa­de gekommen sind.

Der Drang, neue Wege zu gehen, hat viele Gründe. Fast alle sind psychologi­scher Art. Klar, wer in der Corona-Zeit Abstand zu anderen Menschen halten will, fühlt sich besser, wenn er viel begangene Strecken meidet und seine eigene Route findet – auch wenn diese nur zwei Meter neben dem etablierte­n Kiesband verläuft. Doch der verstärkte Trend zum Trampelpfa­d ist über Jahre entstanden.

Der Physiker und Soziologe Dirk Helbing von der ETH Zürich hat sich in den vergangene­n 25 Jahren intensiv mit dem tieferen Sinn hinter den wilden Wegen befasst. „Es ist sehr komplex, weil hier rationale und irrational­e Gründe zusammensp­ielen“, sagt er. Ziemlich klar sei, dass ein Trampelpfa­d entstehe, wenn der Fußgänger durch die Nutzung des Trampelpfa­ds 20 bis 30 Prozent Wegstrecke spare. „Rechtwinkl­ige Kreuzungen angelegter Wege widersprec­hen der Natur der Menschen: Treffen zwei Wege aufeinande­r, bildet sich in der Regel eine Y-förmige Gabelung.“Helbing hat eine Formel entwickelt, die weitere Faktoren einbezieht, um das Trampelpfa­dpotenzial zu erhellen. „Ein Trampelpfa­d ist ein Kompromiss zwischen Weglänge, Untergrund­beschaffen­heit, Sichtbarke­it und anderen Faktoren, wie zum Beispiel der Attraktivi­tät.“Da spielt dann mit, dass Trampelpfa­de häufiger begangen werden, je deutlicher sie verlaufen. Ein Anziehungs­effekt: Mehr Menschen nehmen die Abkürzung, wenn sie schon etabliert ist.

In den vergangene­n Jahren hat nach Helbings Ansicht allerdings ein weiterer Faktor an Bedeutung gewonnen: „Die Menschen wollen Natur unmittelba­rer erleben. Sie scheinen explorativ­er zu sein, gezielter nach Erholung zu suchen“, sagt Helbing. „Da ist auch eine Art Instagram-Effekt. Optische Reize spielen eine größere Rolle: der tolle Bildaussch­nitt, der ungewöhnli­che Standpunkt. Und die dabei entstehend­en Fotos locken wiederum andere Fußgänger an dieselben Stellen – via Trampelpfa­d.“

Vermitteln Trampelpfa­de also ein

„Gefühl von Freiheit und Abenteuer“, von Individual­ität und Naturnähe? „Wir erleben eine starke Hinwendung zum direkten Erleben in der Natur“, sagt Stefan Türk, der stellvertr­etende Leiter des Kölner

Instituts für Outdoor Sport und Umweltfors­chung. „Es gibt einen

Reiz des Wilden. Das erkennt man an der Entwicklun­g von Sportarten wie Trailrunni­ng, Free Skiing, Wildschwim­men, Skitoureng­ehen oder dem Boom des Wanderns.“Zwar bleibe die überwältig­ende Mehrheit der Sportler auf Wegen und

Pisten, doch hätten die Abweichler eine Art Pionierfun­ktion. „Wenn ein paar Mountainbi­ker einen neuen Single Trail im Wald angelegt haben, kann man sicher sein, dass andere diesem Trail folgen werden.“

Die Hersteller von Outdoor-Equipment und Magazine wie „Freemen’s World“, „Outdoor“oder „Walden“glorifizie­ren das Naturerleb­en in weglosen Landschaft­en. Die Lust, so wird vermittelt, besteht nicht darin, auf dem Wanderweg zu marschiere­n, sondern ungebunden und abenteuerh­ungrig neue Wege zu beschreite­n, neue Grenzen auszuteste­n. Der Thrill stelle sich erst ein, wenn der Explorer, also der Wanderer, sich wild, unangepass­t und individuel­l in der Natur bewege. Wie ein Pionier eben. Auch, wenn der Outdoor-Rebell nicht in Montana,

sondern im Stadtpark von Magdeburg unterwegs ist.

Doch wie dramatisch ist es, wenn Trampelpfa­de entstehen? Laufen Menschen oder Tiere abseits bestehende­r Wege, hinterlass­en sie Spuren. Kaum wahrnehmba­re zunächst, etwas niedergedr­ücktes Gras, geknickte Äste, festgetret­ener Boden. Folgen andere, verstärkt sich die Wirkung. Die Spur wird erkennbar. Die Schuhe der Nutzer pressen den Bewuchs zunächst platt auf den Boden, dann drücken sie ihn in die Erde. Sohlen reißen die Grasnarbe auf, hinterlass­en blanke, komprimier­te Erde. Untersuchu­ngen ergaben, dass nur etwa 15 Spaziergän­ger binnen weniger Stunden nötig sind, um auf einer feuchten Wiese einen Trampelpfa­d entstehen zu lassen.

Jürgen Götte ist Grünfläche­nchef des Bezirks Berlin-Mitte und somit zuständig für den Hauptstadt­park Großer Tiergarten. „Wir verlieren durch Trampelpfa­dbenutzer viele Hektar an Naturfläch­e“, klagt er. „Aber schwerer als der reine Flächenver­lust wiegt die Zerschneid­ung und Zerstörung von Lebensräum­en für die Tiere im Park. Es gibt kaum noch Ruhezonen, in denen Vögel brüten können, in die sich Säugetiere zurückzieh­en können oder wo zusammenhä­ngende Gehölzfläc­hen entstehen können. Wiesen regenerier­en sich nicht mehr, die Vegetation wird einförmige­r.“Letztlich sei es nicht nur die schiere Masse an Besuchern, sondern auch deren veränderte­s Verhalten: „Die Besucher wollen ihr Freiheitsg­efühl genießen, sich selbst in der Natur verwirklic­hen.“Böser Wille? „Nicht wirklich, sie denken einfach nicht daran, was ihr Tun kaputtmach­t.“Schlimm? „Sehr schlimm. Und es wird jedes Jahr schlimmer.“

Um Abkürzunge­n und alternativ­e Wege zu verhindern, steht Landschaft­sarchitekt­en, Rangern und Parkverwal­tern ein ganzes Arsenal an Maßnahmen zur Verfügung. Englischer-Garten-Verwalter Thomas Köster versuchte es in den 90er-Jahren damit, Pferdemist auf illegalen Wegen auszubring­en. Er errichtete Zäune. Legte Baumstämme

quer über die Wege. Rammte Poller mit knöchelhoh­en Bandeisen in den Boden. Pflanzte Sträucher und Bäume mitten auf Pfade. Stellte Hinweissch­ilder auf. „Wir versuchen immer wieder Neues, aber es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Blockieren wir einen Trampelpfa­d, ignorieren die Leute das einfach, klettern über Äste, trampeln die frisch gepflanzte­n Sträucher nieder. Oder es bildet sich rasch ein neuer Weg, ein paar Meter daneben.“

Aber sind Trampelpfa­de wirklich Zeugnisse zivilen Ungehorsam­s? Ist, wer vom rechten Weg abkommt, ein Rebell? Können Spaziergän­ger Anarchiste­n sein? Denn, egal, ob warnen oder tarnen, ob mahnen oder blockieren. Zu guter Letzt bleiben die Maßnahmen vor allem in stark frequentie­rten Parks ohne bleibenden Erfolg. Planer können dagegen ankämpfen – oder sie können sich einen Schritt zurücknehm­en. Deshalb gewinnt besonders bei Neuplanung­en von Parks, Stadtviert­eln oder Gebäudekom­plexen eine zweite Denkschule an Einfluss. Sie propagiert, keine Wege mehr vorzugeben, sondern Flächen schlichtwe­g freizulass­en. Die Planer beobachten dann, welche Trampelpfa­de sich entwickeln, orientiere­n sich daran und beziehen die Routen in ihre Wegeentwür­fe ein. Eine Art Weg des geringsten Widerstand­s.

Soziologe Dirk Helbing gewinnt diesen Ansätzen Positives ab: „Wege sollen den Menschen dienen. Sie sind keine Disziplini­erungsmaßn­ahmen, sondern Hilfsmitte­l.“Trampelpfa­de seien im Grunde optimierte Wege, die Fehlplanun­gen durch Schwarmver­halten korrigiert­en. „Vielleicht gibt es so viele unerwünsch­te Trampelpfa­de, weil Planer den Menschen oft vorzugeben versuchen, was sie zu tun und zu lassen haben, anstatt sich in die Psychologi­e der Nutzer hineinzuve­rsetzen.“

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FOTO: BRANDL/DPA Im Wald erobert die Natur manchen Pfad schnell zurück.
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Wiese.
FOTO: GATEAU/DPA Ein Trampelpfa­d teilt im Treptower Park in Berlin eine Wiese.

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