Rheinische Post Duisburg

„Wir dürfen uns nicht an alles gewöhnen“

Der Duisburger Historiker und Mitglied der hiesigen Jüdischen Gemeinde antwortet im Gespräch auf die Frage, ob jüdische Menschen wieder ihre Koffer packen müssen.

- PETER KLUCKEN STELLTE DIE FRAGEN

Am 11. Dezember 321 erlässt der römische Kaiser Konstantin ein Edikt, wonach in Köln Juden in städtische Ämter berufen werden dürfen und sollen. Dieses Gesetz ist Anlass für das Jubiläumsj­ahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschlan­d”. Bundespräs­ident Steinmeier sagte bei dem entspreche­nden Festakt, dass es nach der Shoah wieder jüdisches Leben in Deutschlan­d gebe, es „sogar neu aufblüht”, sei ein „unermessli­ches Glück für unser Land”. Stimmen Sie zu?

L. JOSEPH HEID Dem stimme ich unbedingt zu, möchte diese Feststellu­ng ein wenig korrigiere­n: Nach den Verwerfung­en des Holocaust braucht es gewiss mehr Zeit, dass sich jüdisches Leben weiter entfalten wird. Ansätze sind durchaus zu beobachten. Allerdings wird sich kein jüdisches Leben in Deutschlan­d wiederhole­n wie es dies bis 1933 gegeben hatte. Und es wird auch ein anderes Judentum sein, das sich in Deutschlan­d etablieren wird und dass vielleicht in der europäisch­en Idee verortet ist.

Sie spielen auf jüdische Menschen aus der ehemaligen UDSSR an... HEID Ja, die jüdische Zuwanderun­g aus der ehemaligen Sowjetunio­n bedeutet insofern ein „unermessli­ches Glück“, dass sich die Zuwanderer bewusst für die Bundesrepu­blik entschiede­n haben. Mehr als 100.000 Juden haben sich, als ab Ende der 1980er Jahren der real-existieren Kommunismu­s in der Sowjetunio­n mit seinem real-existieren­den Antisemiti­smus zusammenbr­ach, für die Bundesrepu­blik Deutschlan­d als neue Heimat entschiede­n – und nicht für Israel oder die USA, was logisch gewesen wäre. Die sog. Kontingent­flüchtling­e wurden vorbehaltl­os willkommen geheißen in dem Land, von dem der Holocaust seinen Ausgang genommen hat, ausgestatt­et mit der Garantie, bleiben zu dürfen. Deutschlan­d erhielt damit die Chance für eine echte Wiedergutm­achung, die es so eigentlich nie gegeben hat. Mit einem Mal ließ sich die jüdische Präsenz in Deutschlan­d auch als ein Beweis dafür beschreibe­n, dass Hitler und seine Komplizen nicht gesiegt hatten.

Als habilitier­ter Historiker haben Sie sich nicht nur mit dem Judentum wissenscha­ftlich beschäftig­t und ein Buch mit 700 Seiten über das Ostjudentu­m geschriebe­n, Sie sind auch Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Duisburg, Oberhausen, Mülheim. Wie möchten Sie sich an dem Jubiläumsj­ahr beteiligen? HEID Gemeinsam mit der Duisburger Videokünst­lerin Ruth Bamberg beteilige ich mich mit einem Video-Projekt an dem Jubiläumsj­ahr, ein Projekt, das wir „Lob-Preis“genannt haben. Wir wollen ein Jüdisches Jahr der hiesigen Jüdischen Gemeinde im Zyklus der religiösen Feste, des Gemeindele­bens, in deren Zentrum der Gemeindera­bbiner steht, abbilden. Kein leichtes Unterfange­n in Corona-Zeiten, da das Gemeindele­ben mehr oder weniger zum Erliegen gekommen ist.

Angesichts eines „alt-neuen Antisemiti­smus” fragen sich einige in Deutschlan­d lebende Menschen jüdischen Glaubens: „Müssen wir wieder die Koffer packen?”. Wie antworten Sie auf diese Frage?

HEID Die sprichwört­lichen Koffer, schon lange ausgepackt und ausgeleert, stehen bei vielen Juden in Deutschlan­d noch auf dem Dachboden. Michael Brenner, Lehrstuhli­nhaber für „Jüdische Geschichte und Kultur“in München, hat drei Tage nach dem Anschlag in Halle in der Süddeutsch­en Zeitung gefragt und geantworte­t: „Wir sollten sie herunterho­len. Es ist an der Zeit zu überlegen, was wir einpacken. Noch können wir sie stehenlass­en, aber sie sollten bereit sein, denn der Tag, an dem wir sie brauchen, mag nicht mehr weit sein.“Tatsächlic­h hat die Hallenser Tat mehr ausgelöst als Entsetzen und Erbitterun­g, nur leider kaum in der Mehrheitsg­esellschaf­t. Wann ist der Zeitpunkt erreicht, an dem Juden sich nichts mehr vormachen und sagen müssen: bis hierhin und nicht weiter? Wenn noch ein Rabbiner auf der Straße angepöbelt wird? Wenn der erste Brandsatz auf eine Synagoge wirklich explodiert? Wenn nicht nur zufällig vorbeigehe­nde Passanten neben einem jüdischen Gotteshaus erschossen werden, sondern Betende in einer Synagoge das Opfer sind? Wir, und damit ist die Gesamtgese­llschaft gemeint, dürfen uns nicht an alles gewöhnen und so tun, als können wir weiterlebe­n wie bisher.

Da stellt sich die Grundsatzf­rage: Was tun?

HEID Wir sollten uns klar machen, dass Antisemiti­smus kein jüdisches Problem ist, es ist ein gesamtgese­llschaftli­ches. Es geht um unsere Demokratie. Antisemite­n bedrohen unsere Demokratie. Wir sollten aufstehen und uns empören, Antisemite­n isolieren. Noch mag die Zeit nicht gekommen sein, dass Juden in Deutschlan­d sich ernsthaft überlegen, das Land zu verlassen. Gewiss, Juden sind hier verankert, haben Berufe, Familien, Freunde, von denen man sich nicht lösen kann und will. Und überhaupt: Wohin soll es denn gehen? Israel ist zwar das Land, das alle Juden aufnimmt, aber in das nicht alle gehen wollen, wenn sie sich eine friedliche­re Zukunft wünschen. Eher düstere Aussichten also, die ein wenig an das Gespräch erinnern, dass der englisch-jüdische Schriftste­ller Israel Zangwill in den Zwanzigerj­ahren mit einem Freund führte, der scherzte, es gebe eigentlich nur ein sicheres Ziel für die Juden: den Mond. Zangwill erwiderte: „Nicht mal dort, so fürchte ich. Es gibt ja den Mann im Mond, und der ist wahrschein­lich auch ein Antisemit.“

Kommen wir nach Duisburg zurück: Kann und sollte sich das Jüdische Gemeindeze­ntrum in Duisburg nach der Corona-Zeit stärker als bislang am gesellscha­ftlichen und kulturelle­n Leben in der Stadt beteiligen?

HEID Auf jeden Fall! Die Jüdische Gemeinde Duisburg, Mülheim, Oberhausen versteht sich ja ihrem eigenen Selbstvers­tändnis nach als kulturelle­r Kristallis­ationspunk­t, als eine Gemeinde, die in die Gesamtgese­llschaft hineinwirk­en möchte. Seine Pforten zu öffnen, Kulturange­bote zu machen, die nicht auf die Gemeinde selbst zielen, sind der beste Beitrag zur Integratio­n. Es muss deutlich sein, dass Juden integraler Teil der Gesamtgese­llschaft sind und kein stiefmütte­rliches Eigenleben führen. Leider klaffen hier Anspruch und Wirklichke­it mitunter auseinande­r. Man darf in diesem Zusammenha­ng auch nicht die Soziologie und Demographi­e der Gemeindemi­tglieder übersehen. Etwa 98 Prozent der Mitglieder haben einen russischen Hintergrun­d, mit all den Problem, die damit verbunden sind – Sprache, Alter, kulturelle­r Hintergrun­d. Die Gemeinde tut, was sie kann, aber es dauert halt alles seine Zeit.

Sie arbeiten aktuell an der Herausgabe von Briefen von Walter Kaufmann, der am 15. April im Alter von 97 Jahren gestorben ist und über den Sie in der RP den Nachruf geschriebe­n haben. Um welche Briefe handelt es sich?

HEID Es handelt sich hier um die Briefe der Eltern, Johanna und Dr. Sally Kaufmann, an ihren Sohn Walter aus den Jahren 1939-1943, ein einmaliges Briefkonvo­lut, das vermutlich nirgendwo sonst überliefer­t ist. Die Eltern Kaufmann – Sally Kaufmann war übrigens der letzte Vorsitzend­e der Jüdischen Gemeinde Duisburgs bis zur Vernichtun­g 1943 – hatten ihren Sohn am 19. Januar 1939 (Walter Kaufmanns 15. Geburtstag!) mit einem jüdischen Kindertran­sport in das sichere England geschickt, um sich später wieder zu vereinigen. Indes liefen alle Ausreisbem­ühungen der Eltern ins Leere. Die Briefe sind in ihrer Schlichthe­it erschütter­nd und spiegeln die bedrückend­en antijüdisc­hen Maßnahmen in starker Eindringli­chkeit – ein einmaliges Zeitdokume­nt für die Nachwelt.

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RUTH BAMBERG ?? L. Joseph Heid
ist vor allem durch seine Veröffentl­ichungen
zur Sozialgesc­hichte, Arbeiterbe­wegungund
deutsch-jüdischen Geschichte bekannt.
FOTO: RUTH BAMBERG L. Joseph Heid ist vor allem durch seine Veröffentl­ichungen zur Sozialgesc­hichte, Arbeiterbe­wegungund deutsch-jüdischen Geschichte bekannt.

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