Bolsonaro hat noch ein Ass im Ärmel
Lula da Silva hat in Brasilien einen Erstrundensieg bei der Präsidentenwahl verpasst. Der Amtinhaber ist dem Herausforderer dicht auf den Fersen.
BRASÍLIA/DÜSSELDORF Es dauerte einige Zeit, bis der Wahlsieger vor die Anhänger trat: Der linke Herausforderer Luiz Inácio Lula da Silva (74) hatte zwar die erste Runde der brasilianischen Präsidentenwahl mit 48,4 Prozent vor Jair Bolsonaro (64) mit 43,2 Prozent gewonnen. Trotzdem war die Freude verhalten. Das lag einerseits darin, dass der in den Umfragen für möglich gehaltene Lula-Triumph im ersten Wahlgang ausblieb, zum anderen aber vor allem daran, dass der rechtspopulistische Amtsinhaber mehr Stimmen holte als vorhergesagt.
Mehr noch: Plötzlich scheint ein Sieg Bolsonaros in der Stichwahl am 30. Oktober, der noch in allen Umfrageszenarien bis zum Wochenende kategorisch ausgeschlossen wurde, nicht mehr unmöglich. „Das ist nur eine Verlängerung“, sagte Lula anschließend. „Wir kämpfen um den Sieg bis zum Ende.“Bolsonaro kündigte an, ganz auf den Faktor langsame, aber stetige wirtschaftliche Erholung zu setzen. Brasilien befinde sich auf einem guten Weg.
Dass die Umfrageinstitute Ipec und Datafolha bei Bolsonaro teilweise um zehn Prozentpunkte daneben lagen, ist deswegen so dramatisch, weil das Lager des Präsidenten damit die These von einer Wahlmanipulation weiter vorantreiben könnte. Dass das Bolsonaro-Lager eine hauchdünne Niederlage nicht akzeptieren würde, wird damit ein Stück wahrscheinlicher und auch gefährlicher.
Trotzdem geht Lula als Favorit in die Stichwahl. Sein eigenes Lager dürfte durch das bessere Bolsonaro-Ergebnis aufgeschreckt, aber nun auch bis in die Haarspitzen motiviert sein. Wer Bolsonaro verhindern will, wird am 30. Oktober zur Wahl gehen und für Lula stimmen. Wenn der Ex-Präsident (2003 bis 2011) keinen schweren Fehler mehr macht, wird er voraussichtlich knapper als erwartet, aber doch gewinnen. Lula muss nur noch 1,6 Prozentpunkte hinzugewinnen, Bolsonaro braucht noch zusätzliche 6,9 Punkte für einen Sieg in der Stichwahl.
Warum nun Bolsonaro besser abgeschnitten hat, ist in den sozialen Netzwerken, aber auch in den Kolumnen
der brasilianischen Medien ein heiß diskutiertes Thema. Offensichtlich empfindet ein nicht unerheblicher Teil der Wählerschaft die Lage im Land als nicht so schlimm oder dramatisch, wie sie in den nationalen oder internationalen Medien geschildert wird. Die wichtige Agrarindustrie fährt Rekordgewinne ein, ebenso der für das volkswirtschaftliche Selbstbewusstsein der Brasilianer so wichtige Erdölkonzern Petrobras, der vor einigen Jahren noch am Boden lag. Die Mordrate ist auf dem niedrigsten Stand seit 2007, und die Steuersenkung auf Sprit kommt bei den Leuten ebenso an wie die überlebenswichtigen Krisenhilfsgelder in Höhe von 120 Euro für die armen Familien.
Hinzu kommt, dass Bolsonaro ein perfektes Zusammenspiel mit den erzkonservativen evangelikalen Kirchen gelingt. Er liefert mit den Schlagworten Vaterland, Gott, Freiheit und Familie das ideologisch-spirituelle Rüstzeug, sorgt für Steuergeschenke – und die Kirchen werben im Gegenzug für Bolsonaro. Offenbar wiegen all diese Fakten das bisweilen vulgär-populistische, teilweise auch rassistische Auftreten des Amtsinhabers auf. Und dann ist da auch noch Unbehagen wegen Lulas politischer Mitverantwortung für die Korruptionsskandale aus der Vergangenheit. Dass Lula einen Großteil ehemaliger Weggefährten oder Figuren aus der „guten alten Zeit“zurück auf die Bühne geholt hat, ist aus diesem Blickwinkel vielleicht sogar eher ein Nachteil. Ein wirklicher Neuanfang wäre das nicht, eher ein Anti-Bolsonaro-Bündnis.