Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Sie wissen nicht, was eine Diktatur ist“
BASTIAN FLEERMANN Der Leiter der Mahn- und Gedenkstätte über „Querdenker“, die sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank vergleichen.
In dieser Woche besuchte Nrw-innenminister Herbert Reul die städtische Mahn- und Gedenkstätte, die mit ihrer Dauerausstellung und auch als Forschungsinstitut den Düsseldorfer Opfern der Nazizeit gewidmet ist. Während wir ihn durch unser Haus führten, sagte er – eigentlich mehr an sich selbst gerichtet – einen kurzen, aber klugen Satz: „Hier kann man lernen, was eine Diktatur ist.“Prinzipiell hat er damit vollkommen Recht: Eine Gedenkstätte für die Ns-opfer erinnert an deren Leiden, an den Machtapparat, den die Nazis sich hier aufgebaut haben, an die brutale Verfolgung von Menschen und die völlige Missachtung sämtlicher Menschenrechte. Doch warum ist es denn eigentlich immer noch so wichtig zu lernen, was eine Diktatur und was keine Diktatur ist? Lernt das nicht eigentlich jeder Schüler wie selbstverständlich im Politikunterricht? Man sollte das meinen.
Jana aus Kassel hat das jedenfalls nicht gelernt. Sie ist „Querdenkerin“und Gegnerin der Corona-schutzmaßnahmen und fühlt sich nach eigenem Bekunden „wie Sophie Scholl“, weil auch Jana „im Widerstand“sei. Ich finde es viel zu einfach und auch langweilig, sich nun wochenlang über die Dummheit einer 22-Jährigen lustig zu machen. Aber der Fall zeigt leider, wohin die „Corona-demos“steuern: Die Leitfiguren der Erinnerungskultur werden gekapert und missbraucht, die Geschichte des Holocaust-opfers Anne Frank wird in völlig unangebrachten Vergleichen instrumentalisiert und verdreht, geradezu verharmlost. Bürger heften sich „Judensterne“an ihre Mäntel, weil sie im Supermarkt Masken tragen müssen. „Zuwanderungskritiker“marschieren mit der Fahne der Attentäter vom 20. Juli 1944 herum und symbolisieren damit ernsthaft, dass auch sie sich im Widerstand gegen eine angebliche „Merkel- oder Corona-diktatur“sehen oder fühlen. Die hingerichtete Sophie Scholl als „Kultfigur“derjenigen, die ohne Scham zusammen mit Rechtsextremisten und „Reichsbürgern“auf die Straße gehen? Anne Frank als Ikone der Verschwörungserfinder oder Holocaust-verharmloser? Ich denke: An dieser Stelle reicht’s.
Hier geht es nicht mehr nur um schlechten Stil oder einfache Geschmacklosigkeiten. Hier geht es um staatsbürgerlichen Anstand. Und es geht leider um den Egoismus einer Meute, der es völlig egal ist, wessen Gefühle sie damit verletzt und wen sie alles anstecken könnte. Corona ist dabei nur ein Anlass: Sie lehnen unsere Demokratie, die von sachlichem Meinungsaustausch und Vielfalt lebt, rigoros ab. Sie tun so, als schützten sie das Grundgesetz. Sie wissen nicht, was tatsächlich eine Diktatur ist, die ihnen ihr Geschrei und ihre Aufmärsche einfach und rigoros verbieten würde. Sie wissen nicht, wie die Menschen in Nordkorea leben oder im „Dritten Reich“gelebt haben. Wer dies alles durcheinander schmeißt und noch dazu mit antisemitischem Verschwörungskult vermischt, ist mit der komplexen Welt und den vielen Nachrichten, die über sie berichten, schlichtweg überfordert. Wer alles durcheinander wurschtelt, muss im Geschichtsunterricht noch einmal ganz von vorne anfangen – oder damit rechnen, belächelt zu werden. Und wir? Wir müssen widersprechen und korrigieren, laut, klar und unmissverständlich. Kritik, Wut und Angst sind in der Pandemie erlaubt. Das Demonstrationsrecht gilt. Die demokratische Diskussion über die Corona-maßnahmen ist völlig legitim. Der Missbrauch unserer Geschichte ist es nicht. Und die Verächtlichmachung unserer Parlamente ist völlig inakzeptabel. Eines muss klar sein im Verhältnis zwischen Mehrheit und wütender Minderheit: Wir lassen uns unsere Demokratie und unsere Erinnerungskultur nicht von Euch kaputtschreien. Nicht in Berlin und auch nicht morgen in unserem
Düsseldorf.
Autor Bastian Fleermann, 42, leitet seit 2011 die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Mühlenstraße
29. Der promovierte Volkskundler gehörte dem Team bereits seit 2007 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an. Zudem engagiert er sich gegen Rechtsextremismus und antidemokratische Tendenzen.