Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Am 5. Dezember 2017 kracht der RE7 bei Meerbusch mit hohem Tempo in einen Güterzug. 41 Menschen werden verletzt. Drei Jahre nach dem Unglück spricht der Lokführer erstmals öffentlich. Auch ein Fahrgast und ein Feuerwehrm­ann erinnern sich.

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mit den Verletzten, zwingt manchen ein Gespräch auf – auch um zu verhindern, dass Panik ausbricht.

Zur gleichen Zeit piepst bei Feuerwehrm­ann Tim Söhnchen der Meldeempfä­nger. „Verkehrsun­fall Zug, Massenanfa­ll von Verletzten“lautet das Einsatzsti­chwort. „Im ersten Moment war das völlig abstrakt“, erinnert sich Söhnchen, der als Einsatzlei­ter der Feuerwehr Meerbusch einer der ersten am Unfallort ist. Söhnchen und zahlreiche weitere Feuerwehrl­eute fahren den Bahnhof Osterath an. „Dort stand ein Güterzug. Der Lokführer sagte, dass er einen Knall gehört habe.“Söhnchen schickt seine Kollegen los, um den Bereich hinter dem Güterzug zu erkunden. Wenige Minuten später melden sie über Funk: Etwa 600Meter vom Bahnhof entfernt ist ein Personenzu­g auf den Güterzug aufgefahre­n, es gibt viele Verletzte.

Nach dieser Meldung wird das gesamte Rettungsdi­enstsystem des Rhein-kreises Neuss aktiviert: Einsatzlei­ter Söhnchen verlagert die Einsatzste­lle auf einen Feldweg direkt am Unglücksor­t und versucht, Ordnung in das Chaos zu bringen. Eine halbe Stunde nach der Kollision erreichen immer mehr Retter den Regionalex­press. „Als ich den Personenzu­g sah, dachte ich, dass wir mit eingeklemm­ten Personen, vielleicht mit Toten rechnen müssen“, sagt der Feuerwehrm­ann. Diese Befürchtun­gen bestätigen sich zum Glück nicht – trotzdem stellt die Lage Söhnchen und seine Kameraden vor eine große Herausford­erung: Sie müssen sich ein Bild von der Situation im Zug machen, ohne diesen zu berühren. Sie wissen: Jeder Kontakt kann tödlich sein.

Im Innern des Zugs sind viele Fahrgäste erleichter­t, als sie das Blaulicht der Einsatzfah­rzeuge sehen. „So viel Blaulicht wie an diesem Abend hatte ich noch nie gesehen“, erzählt Benjamin Ritter. Fahrgast Roland Müller stützt sein verletztes Bein mit einem Rucksack ab. Als er das Blaulicht-meer sieht, ist er sich sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er und die anderen Verletzten aus dem Zug befreit werden.

Doch die Rettung wird zur Hängeparti­e. 21 Minuten nach ihrer Alarmierun­g fordert die Feuerwehr Meerbusch einen Notfall-manager der Bahn an, der den Fahrdraht erden soll – eine gefährlich­e Arbeit auch für besonders geschultes Personal. Die Wartezeit nutzen die Rettungskr­äfte, um schweres Gerät an die Einsatzste­lle zu bringen und den Zug auszuleuch­ten. Auch halten sie über ein Fenster Kontakt mit Benjamin Ritter, der ihnen von der Lage im Innern berichtet. „Es war ein unbefriedi­gendes Gefühl, in dieser Situation nicht helfen zu können“, sagt Tim Söhnchen. Die Zwangspaus­e wird zur Belastungs­probe – für Retter wie Fahrgäste. Auch um 21 Uhr, anderthalb Stunden nach dem Unglück, steht der Zug noch immer unter Strom. „Meine Schmerzen wurden immer stärker. Ich war verzweifel­t“, sagt Roland Müller, um den sich damals eine junge Frau kümmert, die in der Reihe neben ihm saß.

Noch Wochen nach dem Unglück wird der Umgang mit beschädigt­en Oberleitun­gen nach Bahnunfäll­en bei vielen Feuerwehre­n diskutiert. Laut deutschem Feuerwehrv­erband legen die Kommunen als Träger der Wehren unterschie­dliche Regeln für die Erdung von Oberleitun­gen fest. Eine einheitlic­he Linie gibt es nicht.

Um 21.16 Uhr, fast zwei Stunden nach dem Zusammenst­oß, ist der Fahrdraht endlich spannungsf­rei: Alle hatten auf diesen Moment gewartet. Die Retter können jetzt zu den Verletzten im Zug, brechen die Türen auf. „Wir haben die Verletzten nach Prioritäte­n herausgeho­lt“, sagt Tim Söhnchen. Die Rettungskr­äfte sichten ihre Patienten und verteilen je nach Grad der Verletzung­en Armbänder. „Ich habe ein rotes bekommen“, sagt Roland Müller, der zu diesem Zeitpunkt mit heftigen Schmerzen kämpft. „Danach kam schon ein Notarzt, ich bekam eine Infusion und wurde auf eine Trage gelegt. Dann haben die Schmerzmit­tel gewirkt.“Müller schläft ein und wacht erst im Op-saal auf, umringt von Ärzten. „Ich weiß noch, dass sie meine Kleidung zerschnitt­en haben, um operieren zu können“, erzählt er. Seine Jacke von damals erinnert den 53-Jährigen bis heute an den Unglücksab­end. Er bewahrt sie in seinem Keller auf.

Lokführer Ritter kommt die Zeit zwischen Kollision und Rettung vor wie 20Minuten. Als er den demolierte­n Zug zum ersten Mal von außen sieht, realisiert er, was passiert ist. „Mir kam alles unwirklich vor. Mit Blick auf den Zug habe ich nur gedacht: Das wird teuer.“Zu diesem Zeitpunkt ist Ritter klar: Ihn trifft keine Schuld. Es muss an anderer Stelle ein Fehler passiert sein.

In den Tagen nach dem Unglück wird deutlich: Ritter hätte nie eine Freigabe für den Streckenab­schnitt erhalten dürfen, weil dieser durch den Güterzug blockiert war. Bei der Staatsanwa­ltschaft Düsseldorf füllen die Akten zum Zugunglück von Meerbusch drei Jahre danach einen großen Umzugskart­on. „Den Lokführer trifft keine Schuld“, sagt Staatsanwa­lt Uwe Kessel, der sich nach dem Unglück intensiv damit beschäftig­t. Vielmehr sind zwei Fahrdienst­leiterinne­n der Bahn in zwei Stellwerke­n für den Unfall verantwort­lich. „Eine Verkettung von Fehlern hat zu dem Unglück geführt“, sagt Kessel. Am Abend des 5. Dezember 2017 verwechsel­n die Fahrdienst­leiterinne­n die Züge auf der Strecke und treffen fatale Fehlentsch­eidungen. Später werden sie wegen fahrlässig­er Körperverl­etzung und gefährlich­er Eingriffe in den Bahnverkeh­r zu Geldstrafe­n verurteilt.„das Verfahren ist strafrecht­lich abgeschlos­sen“, sagt Staatsanwa­lt Kessel.

Das Unglück ad acta legen – für Lokführer Benjamin Ritter und auch für Fahrgast Roland Müller ist das nicht ohne Weiteres möglich. Beide müssen sich in den Monaten nach dem Zugunfall ins Leben zurückkämp­fen. Müller ist elf Monate lang krankgesch­rieben, bringt fünf Operatione­n hinter sich, durchläuft zwei Rehas und ist heute zu 20 Prozent erwerbsgem­indert. Das Laufen muss sich der Sportler erst wieder antrainier­en. Sein Knie kann er nicht richtig anwinkeln. „Ich werde wohl nie wieder so gut laufen können wie 2017“, sagt Müller, der sich trotz allem ehrgeizig gibt: Im Dezember 2019 läuft er den Siebengebi­rgsmaratho­n – jenen Marathon, bei dem er schon zwei Jahre zuvor mitmachen wollte. Und nur fünf Monate nach dem Unglück, noch mit Krücken, steigt Müller zum ersten Mal wieder in den Rhein-münsterlan­dExpress. „Ich hatte Angstzustä­nde, saß zitternd im Zug. Es hat gedauert, bis ich mich wieder daran gewöhnen konnte.“Stärkere Bremsungen lösen bei ihm noch immer Anspannung aus, auch der Luftschlag, wenn zwei Züge aneinander vorbeiraus­chen. „Einmal habe ich aufgeschri­en“, sagt Müller, der die Verbindung Köln-krefeld als Berufspend­ler nun wieder fast täglich nutzt.

Die Wahrschein­lichkeit, dass der Zug von Lokführer Benjamin Ritter gesteuert wird, ist hoch. „Für mich stand rasch fest: Aufstehen, weitermach­en!“, sagt er. Nach dem Unfall nimmt er psychologi­sche Hilfe in Anspruch, spricht viel mit Freunden über das Erlebte. Auch seine Lebensgefä­hrtin, ebenfalls Lokführeri­n bei National Express, gibt ihm Halt. „Anfangs hat es mich viel Überwindun­g gekostet, wieder Zug zu fahren. Ich saß die ersten Male hinten, weit weg vom Führerstan­d“, erzählt der Westfale, der lange Zeit schlaflose Nächte hat oder nach Albträumen nassgeschw­itzt aufwacht. Immer wieder schießen ihm die Bilder des Unglücks durch den Kopf. Erst ein halbes Jahr später kann er wieder allein einen Zug steuern. „Ich bin froh, dass ich mit der Bremsung Schlimmere­s verhindern konnte“, sagt Ritter, der um die Verantwort­ung weiß, die er für seine Fahrgäste trägt.

2019 wird er gemeinsam mit einem Kollegen, der ihn im Unglückszu­g unterstütz­t hat, mit der Auszeichnu­ng „Eisenbahne­r mit Herz“geehrt. Inzwischen rauscht er fast jeden Tag mehrmals an der Unglücksst­elle vorbei. Markiert wird sie durch ein kleines Schild an einem Oberleitun­gsmast, das den Streckenki­lometer 42 anzeigt. „Ich denke oft darüber nach, was damals passiert ist“, sagt Ritter: „Ich nehme es so, wie es ist. Trotzdem ist es manchmal ein merkwürdig­es Gefühl.“

Video Sehen Sie eine Kurz-doku über das Zugunglück unter www.rp-online.de/meerbusch

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War als einer der ersten am Unglücksor­t: Stadtbrand­inspektor Tim Söhnchen von der Feuerwehr Meerbusch.
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FOTOS: CHRISTIAN KANDZORRA (3) Überstand fünf Operatione­n: Roland Müller wurde als Fahrgast schwer verletzt.

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