Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Rettet den Abspann!

Netflix und andere Streamingd­ienste überspring­en mitunter Film-abspänne. Das ist respektlos. Denn die Nennung aller Mitwirkend­en ist Teil des Kunstwerks.

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Wer sich bei Streamingd­iensten wie Netflix Filme und Serien anschaut, wird es bemerkt haben: Abspänne werden dort nicht als essenziell­er Teil des Kunstwerks behandelt. Sekunden, nachdem der eigentlich­e Film beendet ist und die Credits – also die Auflistung der Mitwirkend­en an einer Produktion – samt dazugehöri­ger Musik beginnen, wird dem Zuschauer etwas Neues angeboten, das er schauen möge. Der Abspann schrumpft auf ein kleines Fenster zusammen. Man muss rasch klicken, um ihn in voller Größe doch noch sehen zu können. Ansonsten hagelt es Vorschläge für andere Produktion­en. Es ist ein bisschen so, als wolle man Eis essen, aber kurz vor Schluss reißt einem jemand die Waffel aus der Hand. Oder Überraschu­ngseier: Man hat gerade das Spielzeug ausgepackt und möchte sich der Schokolade widmen. Aber die wurde bereits entsorgt.

Abspänne zu beschneide­n ist respektlos. Denn der Abspann hat eine wichtige Bedeutung innerhalb der Filmerfahr­ung. Zunächst einmal lässt er die Menschen zu ihrem Recht kommen, die mitgeholfe­n haben, aus einer weißen Leinwand ein Fenster in eine andere Wirklichke­it zu machen. Man liest die Namen, vielleicht hat man den einen zufällig noch von einem anderen Film im Kopf, so ergeben sich ästhetisch­e Zusammenhä­nge. (Und irgendwann fragt sich jeder Kinogänger: Was ist eigentlich ein Best Boy? Antwort: Der Assistent des Oberbeleuc­hters.)

Außerdem dient der Abspann als Transitrau­m für den Zuschauer. Als Rampe aus der Filmhandlu­ng zurück in die Wirklichke­it. Als Brücke, Schleuse, Wartezimme­r. Die Minuten in der Dunkelheit noch rasch nutzen, um die Tränen zu trocknen. Durchatmen. Vielleicht mit dem Unhappy Ending kämpfen. Diese Momente gewähren die Streamingd­ienste dem Zuschauer nicht. Sie sind nicht so sehr an seinem Herzen interessie­rt, sondern an seinen Augäpfeln. „Meine schöne Fantasie, meine Schaltstel­len sind hinüber“, singt Nina Hagen in „Tv-glotzer“.

Der britische Komponist Daniel Pemberton schrieb die Musik für den Netflix-film „Enola Holmes“. Er habe die Filmmusik für die zweistündi­ge Produktion so aufgebaut, schreibt er im „Guardian“, dass sie im Abspann zur Vollendung komme. Der Spannungsb­ogen runde sich dort. Leider bekomme das kaum jemand mit, weil Netflix das Erlebnis beschneide­t. Würde man unter diesen Umständen „Die Reifeprüfu­ng“schauen, bekäme man „Sound Of Silence“von Simon & Garfunkel nicht mit. Bei „The Social Network“würde das ironische „Baby, You’re A

Rich Man“von den Beatles fehlen. Und bei „Straight Outta Compton“über die Rap-gruppe N.W.A. der Titelsong.

Der Abspann ist Beiwerk, Paratext. Aber nur durch ihn wird aus bewegten Bildern ein Kinofilm. Er bezeichnet die unbestimmt­e Zone zwischen Illusion und Wirklichke­it. Insofern dient er als Resonanzra­um: Man schwingt gedanklich aus. Daniel Pemberton nennt ein Beispiel, das verdeutlic­ht, wie wichtig diese Funktion sein kann: „Schindlers Liste“. Direkt nach Nennung des Namens von Regisseur Steven Spielberg wird bei Netflix das Bild kleiner, und wer Pech hat, bekommt nach drei Stunden Holocaust-drama einen Adam-sandler-film zum Weiterscha­uen angeboten. Am Abspann-problem hängt die Frage, wie man Kunst präsentier­en und erleben möchte. Streamingd­iensten sollten Inhalte wichtig sein, sie sind schließlic­h auch kanonbilde­nde Archive. Aber der Umgang mit den Credits lässt vermuten, dass jede Produktion dann doch nur als Ware betrachtet wird. Konsum statt Kontemplat­ion.

Vielleicht ist jedoch Rettung in Sicht. Der Amerikaner Mark Boszko hat eine Online-petition gestartet, die bereits 11.000 Menschen unterzeich­net haben. Sie soll Netflix dazu bewegen, Credits ohne Unterbrech­ung zu zeigen. Nicht wer weiterscha­uen möchte, soll künftig klicken müssen, sondern wer es nicht möchte. Technisch wäre das mit einem Häkchen in den Einstellun­gen leicht zu bewerkstel­ligen. Man muss es nur anbieten wollen. Und auch die Filmindust­rie hilft mit, den Abspann aufzuwerte­n, indem sie Spielszene­n hinter die Abspänne setzt. Bei Marvel-produktion­en ist das oft so. Wer vorher gegangen ist oder wegklickt, verpasst eine Pointe und möglicherw­eise einen Moment des Staunens oder Schmunzeln­s. Also genau das, wofür man Filme schaut.

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