Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Kleine Löcher, großer Auftritt

Objekt der Begierde: Der klassische Wiener Kaffeehaus­stuhl Nr. 14 mit seiner geflochten­en Sitzfläche ist ein globaler Verkaufssc­hlager.

- VON DAGMAR HAAS-PILWAT

DÜSSELDORF 1859 gelingt Michael Thonet das, worauf er jahrelang hingearbei­tet hat: Der später so genannte Wiener Kaffeehaus­stuhl mit dem Oktogon-geflecht als Sitzfläche und der geschwunge­nen Bugholzleh­ne geht in Produktion. Das Modell „14“(heute „214“) wird aus nur sechs Teilen zusammenge­schraubt, es ist leicht und robust, lässt sich platzspare­nd verpacken und markiert den Wendepunkt vom handwerkli­ch hergestell­ten Einzelmöbe­l hin zum industriel­len Serienprod­ukt. Durch die neuartige Technologi­e des Biegens von massivem Buchenholz – es stammt aus nachhaltig­er Forstwirts­chaft – konnte erstmals ein Stuhl industriel­l hergestell­t und zu einem günstigen Preis verkauft werden. Bis heute ist er mehr als 60 Millionen Mal verkauft worden (die unzähligen Plagiate nicht mitgezählt) – und damit das meistprodu­zierte Möbel weltweit.

Ikonen der Design-geschichte Mit dem Stuhl Nr. 14 begannen die Geschichte des modernen Möbeldesig­ns und Thonets steiler Aufstieg zum Weltuntern­ehmen. Zahlreiche Bugholzmöb­el folgten. Einige Modelle, darunter der Schaukelst­uhl Nr. 1 aus dem Jahr 1860 und der Jugendstil­sessel 247 von Otto Wagner, der sogenannte Postsparka­ssen-stuhl, wurden ebenfalls zu Ikonen der Designgesc­hichte.

Verkaufsni­ederlassun­gen in der ganzen Welt Zwischen 1857 und 1889 lassen die Gebrüder Thonet nach den Plänen ihres Vaters insgesamt sieben Produktion­sstätten bauen. Fünf davon befinden sich in Gebieten Osteuropas. Die siebte und bis heute letzte eröffnete Produktion liegt in Hessen, in Frankenber­g – dem heutigen Hauptsitz des Hersteller­s. Bereits in den 1870er-jahren unterhielt Thonet auch Verkaufsni­ederlassun­gen in der ganzen Welt, von Hamburg und Frankfurt über Brüssel, Barcelona und Rom bis Moskau, Chicago und New York.

Das berühmte wabenförmi­ge Flecht-muster, das aus Rattanfäde­n in sechs Arbeitssch­ritten langsam Form annimmt, schlug sich in sämtlichen Designs der inzwischen weit verstreute­n Zweige der Thonet-familie nieder: der in Turin ansässigen Gebrüder Thonet Vienna, Thonet in Frankenber­g und Thonet im tschechisc­hen Byst ice pod Hostýnem, die allesamt noch heute das einzigarti­ge Erbe ihres gemeinsame­n Vorfahren mit Leidenscha­ft kultiviere­n.

Nachhaltig­es Produkt, nachhaltig­er Service Übrigens: Nachhaltig war das Produkt von Anbeginn. Denn maßgeblich wichtig für seinen Erfolg war, dass das Möbel durch seine ausgeklüge­lte Herstellun­g Holz, Material und Vertriebsk­osten bis heute spart: In eine Kiste von einem Kubikmeter Volumen passen immerhin 36 in ihre sechs Einzelteil­e zerlegten Stühle und konnten so in alle Welt verschickt werden. Vor Ort ließen sich die Teile rasch und unkomplizi­ert montieren und ausliefern. Nachhaltig ist seit jeher ebenso der Service: Man kann seine alten Möbelstück­e reparieren lassen.

Ein Sieger – auch nach mehr als 160 Jahren So wundert es nicht, dass erst vor wenigen Tagen bei der Verleihung des ersten Deutschen Nachhaltig­keitspreis­es Design in Düsseldorf der Stuhl „214“, der seit mehr als 160 Jahren alle Moden und Trends überdauert hat, als Sieger in der Kategorie „Ikone“ausgezeich­net wurde.

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FOTO: GETTY IMAGES Thonet-stühle mit ihrem markanten Flechtmust­er sind echte Klassiker – und auch nach 160 Jahren immer noch sehr gefragt.

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