Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Familie wird wichtiger als jede Geldanlage
ZUKUNFTSKONZEPTE FÜR FAMILIE UND KINDER Interview Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski sagt, wie Pandemie und Vielfalt Familien verändern werden.
Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski sagt, wie Corona und die zunehmende gesellschaftliche Vielfalt Familien verändern wird.
DÜSSELDORF Die Düsseldorfer Familie ist in einem tiefgreifenden Wandel. Das traditionelle Modell mit verheirateten Eltern und Kindern unter einem Dach ist rückläufig. In jedem fünften Haushalt wird das Kind bereits nur noch von einem Elternteil erzogen, wie der jüngste Demografie-bericht der Stadt zeigt. Der Anteil der Haushalte mit Kindern unter 18 Jahren liegt sogar nur noch bei 17 Prozent. Die Düsseldorfer Gesellschaft und damit auch die Familien werden zugleich jünger und diverser: Das Durchschnittsalter liegt bei knapp 43 Jahren, jeder dritte Düsseldorfer ist unter 30. Fast 43 Prozent aller Düsseldorfer haben einen Migrationshintergrund. In der Corona-krise erlebt die Familie aber nun auch eine Renaissance. Wie wird das die Familie der Zukunft beeinflussen? Und welche Herausforderungen werden sie inner- wie außerhalb der Familie haben? Ein Interview mit einem der renommiertesten Zukunftsforscher Europas, Horst W. Opaschowski.
Die Corona-krise hat vielen Menschen die Wichtigkeit der Familie vor Augen geführt. Wird das anhalten?
Horst W. Opaschowski Krisen haben schon immer einen Wertewandel ausgelöst. Denken Sie an die Umwelt-bewegungen nach der Öl-/ Energiekrise 1972/73 über Fukushima 2011 bis zur Fridays-for-future-bewegung heute. Nach dem 11. September 2011 schnellte der Wert „Sicherheit“plötzlich nach oben. Jetzt ist es der Wert „Geborgenheit“und mit ihm eine Neubesinnung auf die Familie.
Wie sieht diese Neubesinnung aus? Opaschowski In der soeben veröffentlichten Repräsentativstudie über „Die semiglückliche Gesellschaft“kann ich nachweisen: Für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist mitten in der Krise die Familie „das Wichtigste im Leben“. Auch und gerade die junge Generation stimmt auf das Hohelied der Familie ein. Die Corona-pandemie bewirkt ein Comeback traditioneller Lebensformen. Und mehr als zwei Drittel der deutschen Bevölkerung favorisieren jetzt wieder „Ehe, Kinder und Familie als erstrebenswertestes Lebensmodell“. Die staatlichen Kontaktbeschränkungen haben die Sehnsucht danach verstärkt.
Werden Familien dann auch früher gegründet? In Düsseldorf sind Frauen bei der Geburt des ersten Kindes fast 32 Jahre, das ist bundesweit einer der höchsten Werte. Opaschowski Dies ist ein unaufhaltsamer Trend. Denken Sie an die lange Ausbildung und den schwierigen Einstieg in den Beruf. Das braucht seine Zeit. Insbesondere junge Frauen werden kaum hochqualifizierte Ausbildungen absolvieren und dann einfach in die Familiengründung einsteigen, ohne einem Erwerbsberuf nachgegangen zu sein.
Wie wird die typische Familie um 2050 aussehen?
Opaschowski Die Familie ist kein Auslaufmodell. Aus der kleinen Haushaltsgemeinschaft von Eltern mit Kind(ern) wird eine erweiterte Lebensgemeinschaft mit starken Bindungen, in der Menschen für einander sorgen. Damit meine ich vor allem die Generationenfamilie, den Zusammenhalt von Enkeln, Kindern, Eltern und Großeltern. Wir werden eine neue Solidarität der Generationen erleben. Die Corona-pandemie hat den Nachweis erbracht: Generationen stützen und unterstützen sich in der Not – mental, sozial und auch materiell. Jung hilft alt, Alte sparen für Junge. Ein solcher privater Generationenpakt wird hilfreich bei vielen künftigen Krisen sein.
Die Gesellschaft wird immer diverser, was bedeutet das denn für Familien?
Opaschowski Die Gesellschaft wird diverser, die Familie auch. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Ehen, kinderlose Paare, Patchwork-familien sowie Wohn- und Hausgemeinschaften als eine Art zweite Familie sind Lebensmodelle der Zukunft. Kinder- und Enkellose werden auf die Suche nach neuen Wahlfamilien und -verwandtschaften gehen. Sie werden sich wie eine Familie fühlen, obwohl sie gar nicht miteinander verwandt sind. Die Menschen sehnen sich nach Sicherheit und sozialer Geborgenheit. Und was in früheren Zeiten Hof- und Dorfgemeinschaften waren, werden dann Nachbarn und Hausgemeinschaften sein.
Wie wird sich denn diese Diversität dann auf Erziehungsfragen auswirken?
Opaschowski Die wichtigsten Erziehungsziele der Zukunft werden Selbstständigkeit und Ehrlichkeit, Respekt und Toleranz sein. Das zeichnet die kommende Generation aus: Ob bilingual oder genderneutral – nah am Menschen und of
fen für Weltläufiges. Nur so kann die Familie alle Krisen überleben. Sie wohnt nicht unbedingt unter einem Dach. Sie lebt eher nach dem Prinzip „Nähe durch Distanz“.
Was werden Familien besonders brauchen?
Opaschowski In unsicheren Zeiten am meisten die „3V“: Vertrauen, Verantwortung und Verlässlichkeit. Das ist der soziale Kitt für den Zusammenhalt im Nahmilieu.
Werden sich Eltern in Zukunft in gleichen Maßen um die Betreuung der Kinder kümmern?
Opaschowski Kinderbetreuung wird Frauen- und Männersache. Aus dem Alleinverdiener-leitbild wird ein Doppelverdiener-ideal. Das wird nicht ganz konfliktfrei in der Partnerschaft verlaufen. Beide Geschlechter werden mit einer doppelten Vereinbarkeitskrise konfrontiert. Zur Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesellt sich die Frage der Vereinbarkeit von Frauen- und Männerrollen. Rollenwechsel sind angesagt. Wer spielt in Zukunft die Hauptrolle des Versorgers, wer die Nebenrolle des Zu-verdieners? Statuskämpfe nach oben und nach unten werden zum Alltag in der Partnerschaft gehören. Zudem halten Homeoffice und Netzwerke Einzug in den Alltag. Präsent und digital ergänzen sich.
Wie wird sich das auf das Wohl der Kinder auswirken, wenn beide Elternteile berufstätig sind und Mütter immer früher in den Job zurückkehren, vielleicht schon wenige
Monate nach der Geburt? Opaschowski Als Pädagoge und Erziehungswissenschaftler sehe ich da Probleme. Es gibt erste Untersuchungen darüber, dass Babys und Kleinkinder, die ohne feste Bezugsperson aufwachsen, zwar selbstständiger werden, im Hinblick auf die Bindungsfähigkeit aber Verluste erleiden. Es kann dann im Jugendund Erwachsenenalter Bindungsängste geben, sich an jemanden fest zu binden, es kann auch zu Bindungsunfähigkeit führen. Wenn Mütter, kaum dass sie ihr Kind geboren haben, damit rechnen, in gut drei Monaten wieder im Job zu sein, ist das eine fatale Entwicklung. Wobei ich nicht verkennen will, dass es Notsituationen gibt, wenn zum Beispiel Alleinerziehende keine andere Wahl haben.
Ab wann sollten Kinder frühestens in die Fremdbetreuung gegeben werden?
Opaschowski Ab drei Jahren.
Welche Rolle wird denn Religion für Familien in Zukunft noch haben?
Opaschowski Familie bleibt den Deutschen „heilig“– auch in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Religion und Kirche werden an persönlicher Bedeutung verlieren. Dafür entwickeln sich neue Formen der Religiosität als soziale Geborgenheit. Die Frage lautet nicht: Welche Kirche bietet mir mehr Religion, sondern: Was hat mehr Sinn? Gottesgläubige wandeln sich dann zu Sinnsuchern. Große Institutionen werden zunehmend an Bedeutung verlieren, auch Parteien und Sportvereine.
Der Schweizer Theologe Alexandre Vinet (1797-1847) hat gesagt: „Das Schicksal des Staates hängt vom Zustand der Familie ab.“Hat die Familie auch in Zukunft noch so eine Bedeutung?
Opaschowski Die Familie überlebt alle Krisen und Zeitgeist-strömungen. Aus sozialstaatlicher Sicht ist die Familie die beste Lebensversicherung für die Zukunft. Ehen dauern immer länger, Scheidungen werden seltener. In einer Gesellschaft des langen Lebens muss die Familie verlässlich bleiben. Dabei werden Generationenbeziehungen wichtiger als Partnerbeziehungen. Sie weisen ein höheres Maß an Stabilität auf und halten meist ein Leben lang. Ein Glücksfall für den Staat und die staatliche Vorsorge: Die Familie wird wertvoller als jede Geldanlage. Beziehungsreichtum ist der neue Wohlstand der Zukunft.
Sie sind selbst Vater und Großvater. Beobachten Sie die Entwicklungen auch mit gemischten Gefühlen? Opaschowski Nein, das ist ja das Wunderbare: Auch ich entdecke die Vertiefung der Familienbeziehungen und stelle dabei fest, dass ein Leben ohne Familie ein armes Leben ist.