Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Polexit durch die Hintertür

Polen legt in der Debatte um einen Corona-hilfsfonds der Europäisch­en Union sein Veto ein und löst damit eine Debatte über einen möglichen Eu-austritt des Landes aus.

- VON ULRICH KRÖKEL

Zbigniew Rau ist erst seit wenigen Monaten polnischer Außenminis­ter. Eine Schonfrist gibt es für den Chefdiplom­aten aber nicht. Im Gegenteil. Der 65-Jährige ist in diesen trüben Warschauer Herbsttage­n im Dauereinsa­tz, um all die „hysterisch­en und absurden Debatten“zu beruhigen, von denen er sich umzingelt sieht.

Die Proteste um das umstritten­e neue Abtreibung­sgesetz halten noch an, da kocht das nächste Thema hoch: die Diskussion um einen

Polexit, einen möglichen Austritt aus der EU, die in Warschau seit Tagen mit wachsender Erregung geführt wird. Raus Kabinettsk­ollege Zbigniew Ziobro etwa, seines Zeichens Justizmini­ster, fürchtet eine „Kolonialis­ierung durch die EU“.

Hintergrun­d ist der Streit um das Veto, das Polen und Ungarn kürzlich gegen den Eu-haushalt samt Corona-hilfsfonds eingelegt haben. Ziel der beiden Länder ist es, den daran gekoppelte­n Rechtsstaa­tsmechanis­mus zu stoppen oder zumindest aufzuweich­en. Das Veto sei ein „absolut legitimes Mittel der Verhandlun­gsführung“, sagt Rau und deutet damit Kompromiss­bereitscha­ft an. Im Übrigen habe es „in Polen noch niemals eine nennenswer­te Gruppierun­g gegeben, die einen Polexit gefordert hat, und die PIS wäre die letzte Partei, die überhaupt nur daran denken würde, eine solche Diskussion zu beginnen“.

Rau möchte lieber alle politische­n und juristisch­en Mittel ausschöpfe­n, um den Streit um Rechtsstaa­t, Haushalt und Veto zu schlichten. Dafür jedoch fehlt offenbar die Verhandlun­gsmasse. So jedenfalls sieht man das in der Eu-kommission, im Parlament und auch in den allermeist­en der 25 anderen Mitgliedss­taaten. Kommission­schefin Ursula von der Leyen erklärte vor den Eu-abgeordnet­en, der Mechanismu­s sei „verhältnis­mäßig und notwendig“. Im Zweifel sollten Polen und Ungarn lieber vor den Europäisch­en Gerichtsho­f (EUGH) ziehen und das Verfahren dort auf Herz und Nieren prüfen lassen.

Mehrere führende Parlamenta­rier warfen Polen und Ungarn in der Debatte vor, mit ihrem Veto alle anderen Mitgliedsl­änder in Geiselhaft zu nehmen. Und auch der niederländ­ische Premier Mark Rutte sagt: „Wir werden nicht hinter die erreichte Lösung zurückgehe­n.“Dafür bekomme er auch keine Mehrheit in seinem Parlament. Im polnischen Sejm dagegen unterstütz­te kürzlich die Regierungs­fraktion geschlosse­n und mit absoluter Mehrheit das Veto. „Wir sagen laut Ja zur EU, aber laut Nein zum Rechtsstaa­tsmechanis­mus“, erklärte Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki.

Das Nein bei gleichzeit­igem Ja gleiche doch der Quadratur des Kreises, kontert die Opposition. Man könne nicht das vertraglic­h fixierte Rechtsstaa­tsprinzip ablehnen, den Haushalt per Veto blockieren, sich zugleich aber demonstrat­iv als EU-FAN aufspielen. Der ehemalige Eu-haushaltsk­ommissar Janusz Lewandowsk­i von der liberal-konservati­ven Bürgerplat­tform sieht darin sogar eine „selbstmörd­erische Strategie“, die in einen Polexit durch die Hintertür münden könne. Einige Regierungs­mitglieder, allen voran der ultrakonse­rvative Justizmini­ster Zbigniew Ziobro, befänden sich „mental schon jetzt außerhalb der EU“.

Tatsächlic­h ist es Ziobro, der in dem Streit immer wieder Öl ins Feuer gießt. Nach der Debatte in Brüssel wies der Minister die Worte Ursula von der Leyens als „demagogisc­h“zurück. Der EUGH sei in solchen Fragen nicht kompetent. Im Übrigen solle die Eu-kommission­schefin als „Vertreteri­n des deutschen Volkes“besonders darauf achten, dass die Taten mit den Buchstaben des Gesetzes übereinsti­mmen. Schließlic­h sei es noch nicht lange her, dass „jene, die das Recht brachen, wobei sie auch im Rahmen demokratis­cher Mechanisme­n handelten, Konsequenz­en herbeiführ­ten, an die sich Europa bis heute sehr schmerzhaf­t erinnert“. Eine einigermaß­en kryptische Anspielung auf die Ns-zeit.

Ein Ziobro jedoch macht noch keinen Polexit. Zumindest durch die Vordertür scheint ein Eu-austritt Polen derzeit undenkbar. Bei einem Referendum, wie es in Großbritan­nien zum Brexit geführt hat, würden nach einer aktuellen Umfrage 81,1 Prozent der Polen gegen einen Austritt aus der EU stimmen. In der Wählerscha­ft der rechtskons­ervativen PIS sind es sogar 83 Prozent. Das hat zuallerers­t, aber keineswegs nur mit den üppigen Finanzhilf­en und dem Binnenmark­t zu tun. Beides hat Polen zum Wirtschaft­swunderlan­d Nummer eins in der EU gemacht. Auch die Reisefreih­eit, die Freizügigk­eit für Studierend­e, Selbststän­dige und Arbeitnehm­er und der Klimaschut­z kommen gut in Polen an.

Eine untergeord­nete Rolle spielen allerdings ausgerechn­et die Grundrecht­e und vor allem das Thema Justiz. In derselben Umfrage befürworte­ten zwar 44,8 Prozent der Befragten die Koppelung von EU-MITteln an die Rechtsstaa­tlichkeit. Fast genauso viele waren aber dagegen (44,2). Anderen Erhebungen zufolge unterstütz­en sogar bis zu 57 Prozent der Polen das Veto ihrer Regierung. Manche Demoskopen sehen darin das Potenzial, das die PIS bei einem Dauerkonfl­ikt und einer Polexit-kampagne gegen die EU mobilisier­en könnte. Der ehemalige Präsident Alexander Kwasniewsk­i, der Polen 2004 in die EU führte, sieht es anders. Er glaubt, die PIS habe mit ihrem Veto einen „kapitalen Fehler begangen“, der sie die Macht in Warschau kosten könne. Kwasniewsk­i ist sicher: „Einen Polexit wird es nicht geben.“

„Das Veto ist ein absolut legitimes Mittel der Verhandlun­gsführung“

Zbigniew Rau

polnischer Außenminis­ter

„Wir sagen laut Ja zur EU, aber Nein zum Rechtsstaa­tsmechanis­mus“

Mateusz Morawiecki

polnischer Ministerpr­äsident

 ?? FOTO: RADEK PIETRUSZKA/DPA ?? Unruhige Zeiten in Polens Hauptstadt Warschau: Seit Wochen protestier­en Frauen gegen die Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts, jetzt kommt eine Debatte über einen möglichen Eu-austritt des Landes dazu.
FOTO: RADEK PIETRUSZKA/DPA Unruhige Zeiten in Polens Hauptstadt Warschau: Seit Wochen protestier­en Frauen gegen die Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts, jetzt kommt eine Debatte über einen möglichen Eu-austritt des Landes dazu.

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