Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Zeitenwende
Vor zehn Jahren begann mit der Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers der Arabische Frühling. Die Proteste halten bis heute an.
SIDI BOUZID Eine Verzweiflungstat leitete vor zehn Jahren eine Zeitenwende im Nahen Osten ein. Am 17. Dezember 2010 übergoss sich der tunesische Gemüsehändler Mohammed Bouazizi mit Benzin und zündete sich an, nachdem er von den Behörden in seiner Heimatstadt Sidi Bouzid drangsaliert und gedemütigt worden war. Während der 26-Jährige mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus lag, breiteten sich in Tunesien Demonstrationen gegen den damaligen Diktator Zine el-abidine Ben Ali aus. Als Bouazizi am 4. Januar 2011 starb, war auch Ben Alis Schicksal besiegelt – zehn Tage später musste der Diktator fliehen. Seine Entmachtung wurde zum Fanal für Aufstände in der ganzen Region, die unter dem Namen Arabischer Frühling bekannt wurden.
In schneller Folge fegten Proteste den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak, den libyschen Machthaber Muammar Gaddafi und den jemenitischen Staatschef Ali Abdullah Saleh hinweg. In Syrien begann ein Bürgerkrieg, der eine halbe Million Menschen getötet und Millionen Flüchtlinge bis nach Europa getrieben hat. Nicht nur wegen des Krieges in Syrien steht zehn Jahre nach Bouazizis Selbstverbrennung fest, dass dem Arabischen Frühling kein Durchmarsch der Demokratie folgte. Manche Autokraten konnten ihre Macht festigen. Doch sie stehen einer überwiegend jungen Bevölkerung gegenüber, die weiter Veränderungen fordert.
Dass Bouazizis Selbstverbrennung so viele Menschen berührte und auf die Straße trieb, lag daran, dass Millionen von Tunesiern und anderen Bürgern im Nahen Osten wie er darunter litten, von einem autokratischen Regime kleingehalten zu werden. In einer Region, in der zwei von drei Menschen jünger als 30 Jahre sind, sahen sich viele um Zukunftsperspektiven betrogen. Institutionen und Cliquen um den jeweiligen starken Mann teilten sich
Macht, Geld und Einfluss, die Korruption war allgegenwärtig, die Arbeitslosigkeit hoch. Arme Leute wie Bouazizi hatten schlicht keine Chance.
Langjährige Machthaber wie Ben Ali, der Tunesien seit 1987 regierte, Mubarak, der seit 1981 an der Macht war, oder Gaddafi, der sogar schon seit 1969 herrschte, hatten kein Rezept, um auf die Reformforderungen zu reagieren. „Das Volk will den Sturz des Regimes“, riefen die Demonstranten, die den Tahrir-platz in der ägyptischen Hauptstadt Kairo im Jahr 2011 zum Epizentrum des Arabischen Frühlings machten.
Wie Domino-steine fielen nach Ben Alis Entmachtung die autokratischen Regime in der Region, doch demokratische Fortschritte brachte der Arabische Frühling am Ende nur in Tunesien selbst, wo der friedliche Übergang zu einem demokratischen System trotz vieler Rückschläge gelang. Der östliche Nachbar Libyen dagegen versank in der Anarchie: Gaddafi wurde im Oktober 2011 von Rebellen erschossen, größere und kleinere Milizen kämpften um die Macht. Seit 2014 ist das Land in zwei verfeindete Teile gespalten. Im Jemen hat sich der interne Konflikt zu einem Stellvertreterkrieg zwischen den regionalen Rivalen Saudi-arabien und Iran entwickelt.
In Ägypten folgte auf Mubaraks Sturz zwar eine demokratische Wahl, doch der neue Präsident Mohammed Mursi verprellte große Teile der Bevölkerung mit seinem islamistischen Programm. Mursi wurde 2013 von der Armee gestürzt und durch einen neuen Autokraten ersetzt: Ex-general Abdel Fattah al-sisi regiert das Land mit harter Hand. In Syrien ließ Präsident Baschar al-assad auf Demonstranten schießen und begann damit einen Krieg, der ihn fast die Macht gekostet hätte. Die Intervention Russlands im Jahr 2015 rettete Assad – doch vom Frieden ist Syrien weit entfernt.
Viele Forderungen des Jahres 2010 sind auch heute noch aktuell. Eine Umfrage des Us-amerikanischen Arab Center ergab kürzlich, dass
75 Prozent der Bewohner arabischer Staaten nicht genug Geld haben, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen und noch etwas zu sparen. Jeder dritte Araber unter 34 Jahren will auswandern. Eine große Mehrheit – 74 Prozent aller Befragten – hält die Demokratie für die beste Regierungsform.
Der Irak, der Iran und der Libanon erleben zehn Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings heftige Proteste der unzufriedenen Bevölkerung. Im Sudan musste der langjährige Machthaber Omar al-baschir nach Demonstrationen im vergangenen Jahr das Feld räumen.
In der neuen Welle der Proteste, dem „Arabischen Frühling 2.0“, nutzen die Protagonisten wie schon in den Aufständen vor zehn Jahren Internet, Smartphones und Virtuelle Private Netzwerke ( VPN) zur Umgehung der Zensur: Das Informationsmonopol autokratischer Regierungen ist dahin. Baschir musste im Sudan aufgeben, obwohl seine Regierung den Zugang zu vielen Websites beschränkte: Seine Gegner vernetzten sich per VPN. Die Demonstranten haben zudem aus den Fehlern des ersten Arabischen Frühlings gelernt, wie der Nahost-experte Marwan Muasher sagt. Im Libanon zum Beispiel wolle sich die neue Protestbewegung nicht nach religiösen oder ethnischen Kriterien auseinanderdividieren lassen, schrieb Muasher in einer Analyse für die Denkfabrik Carnegie Endowment for International Peace.