Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Zusammen ist man weniger allein
Käte Bartels ist 81 Jahre alt, die Studentin Sabine Töller 23. Das Projekt „Wohnpaar auf Zeit“hat die Frauen zusammengeführt.
DÜSSELDORF Schon seit März geht Käte Bartels kaum noch vor die Tür. Am Wochenende ein kleiner Spaziergang vielleicht, ein Termin bei der Fußpflegerin unter der Woche. Ansonsten ist sie zu Hause geblieben. Es ging ja auch nicht anders. Keine Gesprächskreise mehr. Kein gemeinsames Singen. Und auch das Training im Altenzentrum dreimal die Woche – alles weggefallen.
Die Kondition wird dann schnell schlechter, das merkt Bartels. Deswegen macht sie ihre Übungen jetzt abends vor dem Fernseher. Immer, wenn „Das perfekte Dinner“läuft. Hauptsache aktiv bleiben: jetzt eben mit Sport auf dem Sofa, Kreuzworträtseln und Büchern. „Ich habe mich die ganze Zeit über an alles gehalten und bin hiergeblieben. Ich bin ja auch gefährlich“, sagt Bartels. „Äh. Gefährdet.“
„Jaja. Gefährlich bist du auch“, sagt Sabine Töller, eine junge Frau mit dunkelblonden Haaren auf dem Sessel neben ihr. Sie lacht. Da muss Bartels auch lachen. Töller ist 23 Jahre alt und der Grund, warum Bartels zwar seit zehn Monaten fast nur noch in ihrer Wohnung in Düsseldorf sitzt, aber trotzdem nicht allein ist, oder gar einsam. Die junge Frau hat ihr einen Adventskalender gebastelt mit kleinen Päckchen, in denen mal Schokolade ist, mal eine Ingwerknolle, weil Bartels sich den so gerne als Tee macht. Sie sitzt mit ihr am Adventssonntag in ihrem mit Weihnachtssternen und Tannenzweigen geschmückten Wohnzimmer und hört Musik. Und sie hilft, wenn irgendwas nicht funktioniert und die alte Dame Hilfe braucht.
Seit dem 28. September 2019 wohnt Töller nun schon mit Bartels in der 114 Quadratmeter großen Wohnung. Sie hat dort ein eigenes Zimmer – zwölf Quadratmeter groß mit Schreibtisch, Sessel, Bett und Schrank – und ein eigenes Bad. Die Küche und das Wohnzimmer teilt sie sich mit Bartels. Bezahlen muss die Studentin dafür nur die Betriebskosten, die Kaltmiete fällt weg. Denn Töller und Bartels sind – auch abgesehen von ihrem Altersunterschied – keine gewöhnliche WG. Sie machen beim Projekt „Wohnpaar auf Zeit“der Stadt Düsseldorf mit. Die Idee: Studierende und Auszubildene finden preiswerten Wohnraum bei privaten Eigentümern und unterstützen als Gegenwert für maximal zwölf Stunden monatlich ihren Vermieter im Alltag oder leisten gemeinnützige Arbeit. Art und Umfang werden dabei zwischen den Mitbewohnern selbst vertraglich festgelegt. Pflegeleistungen sind ausgeschlossen.
Für Töller bedeutet das: Einmal die Woche einkaufen. Mittwochs die Zeitung holen. Sonntags die Orchideen wässern. Alle zwei Wochen das Bett neu beziehen (und zwar faltenfrei, so wie Bartels das mag). Die
Spülmaschine ein- und ausräumen und den Müll rausbringen. Manche Aufgaben macht sie lieber (sich um die Pflanzen kümmern), manche weniger (die Fliesen auf dem Balkon putzen). Töller hilft Bartels, wenn diese plötzlich nur noch 22 Cent auf dem Handy hat und nicht weiß, wie sie das Guthaben wieder aufladen kann, und zeigt ihr, wie sie in der Mediathek „Bares für Rares“finden kann. „Es sind Kleinigkeiten“, sagt Töller. Aber für Bartels sind sie das nicht. Das Stehen geht nicht mehr gut, das Bücken noch weniger. Wenn ihr etwas herunterfällt, bleibt es erstmal liegen.
Sie sorge gerne für andere, sagt Töller. Nach ihrem Abitur ist sie für ein Jahr als Aupair nach Irland gegangen. Jetzt studiert sie Soziale Arbeit an der Fachhochschule in Düsseldorf. Den Studienplatz dafür habe sie im 2019 sehr kurzfristig bekommen, sagt sie. Töller kommt aus Gerolstein, mit dem Auto etwa eine Stunde und 40 Minuten weit weg, mit dem Zug ungefähr doppelt so lange. Sie brauchte eine Wohnung – dringend. Die Idee mit dem Wohnprojekt habe ihre Mutter gehabt. Sabine Töller meldete sich bei der Stadt Düsseldorf, die ihr den Kontakt zu Bartels vermittelte. Sie ging hin, erzählte ein bisschen von sich. Später dann der Anruf: Sie könne einziehen. „Wir haben uns gesucht und gefunden“, sagt Bartels. „Und dabei ja eigentlich noch nicht mal so arg gesucht“, sagt Töller.
Für Bartels ist Töller schon die dritte Mitbewohnerin. Im November 2017 ist ihr Mann gestorben, 47 Jahre lang waren sie verheiratet. Gemeinsam haben sie eine Tochter bekommen, die heute mit ihren drei Kindern in der Nähe von München wohnt. Ihr Mann sei Fluglotse gewesen und habe sie immer unterstützt, sagt Bartels. Das sei eine große Hilfe gewesen, musste sie doch bereits nach zwei Jahren im Berufsleben wegen einer kaputten Hüfte in Frührente gehen.
Fast 40 Jahre lang hatten Bartels und ihr Mann in der Wohnung gelebt. Erstmal hätte Bartels nun vielleicht dort allein leben müssen, hätte nicht eine gute Bekannte von ihr angerufen und gefragt, ob ihre Enkeltochter für ein Praktikum in Düsseldorf ein Zimmer haben könnte. Die Enkeltochter blieb ein halbes Jahr, und als sie wieder ging, erinnerte sich Bartels an den Prospekt über dieses Wohnprojekt, den sie mal aus dem Altenzentrum mitgenommen hatte. So kam Bartels zu ihrer zweiten Mitbewohnerin und – als diese nach einem Jahr heiratete – zu Sabine Töller.
Ihr sei es wichtig gewesen, sagt Bartels, dass die jungen Leute, die bei ihr wohnen, schon etwas erlebt hätten und wie Töller zum Beispiel im Ausland gewesen seien. Sie sei selbst mit 22 Jahren erst nach Großbritannien gegangen als Au-pair und dann noch nach Paris für mehr als ein Jahr. Ganz toll sei das gewesen, sagt Bartels, und ihre Augen glänzen, wenn sie daran denkt. Manchmal erzählt sie Töller davon, wie sie in Paris immer nach der Arbeit noch tanzen war, und dann plaudert Töller von ihrem Studium, und Bartels freut sich, dass sie „frischen Wind“in ihr Leben bringt und sie auch mal hört, „was die jungen Leute so denken“.
Sie waren schon zusammen singen, haben sich Düsseldorf angeschaut oder zusammen einen Auflauf gekocht, weil Bartels den nicht mehr allein machen kann. Aber wenn sie mal im Flur nur schweigend aneinander vorbeigehen, dann ist auch alles okay.
Im März fragten dann auch plötzlich die anderen Nachbarn im Haus, ob sie für Bartels einkaufen gehen könnten. Mit der Corona-pandemie kam auch die Frage der Solidarität zwischen jungen und alten Menschen in die täglichen Nachrichten. Sabine Töller machte jetzt größere Einkäufe, versuchte möglich viel Abstand zu halten und die Flächen, die sie berührte, danach zu desinfizieren. Auch sie ist jetzt viel zu Hause, schaut sich vom Schreibtisch aus die Online-vorlesungen für ihr Studium an und spricht mit Freunden nur noch über Telefon und Internet.
Am 9. Oktober dann der kurze Moment der Panik: Töller erhält ein positives Testergebnis. Sie ist da gerade in der Heimat, war aber vor zwei Tagen noch in der gemeinsamen Wohnung in Düsseldorf. Töller ruft sofort Bartels an, die sie zu beruhigen versucht und mit ihrer Ärztin telefoniert. Auch sie geht jetzt in Quarantäne, das Testergebnis bleibt zum Glück negativ. Zwei Monate bleibt Töller bei ihren Eltern, bis sie wieder nach Düsseldorf kommt. Doch sie, die 23-Jährige, leidet noch heute an den Folgen der Erkrankung: Sie ist müde, die Lunge tut ihr weh, und ab und zu ist auch ihre Temperatur wieder erhöht. Sie könne jetzt immer besser Bartels verstehen, sagt Töller. „Wenn wir jetzt etwas zusammen machen, dann muss ich mich danach auch erst einmal zwei Stunden hinlegen.“
Sie versuchen sich jetzt gegenseitig aufzumuntern. Töller ist für Bartels längst so etwas wie ein viertes Enkelkind geworden. Und Bartels ist für Töller mittlerweile wie ihre dritte Oma. Sie gehen dann mal in den Park, zum Grab von Bartels Mann oder um den Block. Und wenn Bartels Kartoffeln mit Quark macht, dann kocht sie jetzt mal öfter für Töller mit. „Wie geht es dir?“, fragt Bartels, wenn die beiden heute in der Wohnung zusammensitzen. Und Töller antwortet dann: „Wie geht es dir?“
„Sie bringt frischen Wind in mein Leben“Käte Bartels Seniorin, über ihre junge Mitbewohnerin