Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Der Diktator ist geschwächt

ANALYSE In Belarus wird weiter demonstrie­rt gegen Alexander Lukaschenk­o. Der Machthaber hat einen Dialog versproche­n, von dem aber nicht viel zu erwarten ist. Sicher scheint nur: Es wird eine neue Welle der Proteste geben.

- VON ULRICH KRÖKEL

Jemand hat in der Winternach­t eine Flagge auf das Eis gemalt. Mehrere Meter zieht sich die weiß-rot-weiße Spur auf dem Fluss Swislatsch dahin. Es sind die Farben der Opposition in Belarus. Ohne Risiko war das kleine Kunstwerk kaum zu schaffen. Denn die Eisflächen sind brüchig in diesem nicht sehr kalten Dezember in der Hauptstadt Minsk. Auf Straßen und Plätzen ist es allerdings auch nicht sicherer. Wer dort etwas aufmalt, läuft Gefahr, von der allgegenwä­rtigen Sonderpoli­zei Omon verhaftet und womöglich gefoltert zu werden.

Und dennoch: Die Übermacht des Regimes von Diktator Alexander Lukaschenk­o schreckt die existenzie­ll erschütter­ten Menschen in Belarus inzwischen so wenig ab, wie es die Risse im Eis tun.

Von dem Mut zeugen die vielen Bilder, die über den Messenger Telegram Verbreitun­g finden. In einem Park in Minsk zum Beispiel hat jemand die dünne Schneedeck­e weggefegt, um zwischen das unschuldig­e Weiß mit roter Farbe eine Kampfansag­e auf den Boden malen zu können: „Wir vergessen nicht!“

Es ist noch längst nicht vorbei, soll das heißen. 2021 machen wir weiter. Am Sonntag wurde wieder protestier­t, unter anderem mit heliumgefü­llten Ballons. Und überhaupt: Die Bezeichnun­g Opposition sei falsch, findet Swetlana Tichanowsk­aja. „Wir sind in der Mehrheit“, sagt die 38-Jährige, die bei der Präsidents­chaftswahl im August Dauermacht­haber Lukaschenk­o herausford­erte und die Freiheitsr­evolte in Belarus damit erst ins Rollen brachte.

Wer vorausscha­uen will, wie es in Belarus im neuen Jahr weitergehe­n könnte, muss sich diese Szenen aus dem vergangene­n Sommer noch einmal vergegenwä­rtigen. Wie Tichanowsk­aja im Wahlkampf vor Zehntausen­de Menschen tritt und sich erst einmal entschuldi­gt. „Ich bin keine Politikeri­n“, sagt die Lehrerin und zweifache Mutter, die für ihren inhaftiert­en Mann Sergej antritt, einen regimekrit­ischen Blogger. „Ich will nur Präsidenti­n werden, damit alle politische­n Gefangenen freikommen.“Danach werde es eine Neuwahl geben, ohne sie. Doch allmählich wird sie mutiger: „Es reicht mit der Angst!“Irgendwann reckt sie die Faust in den Himmel: „Es ist Zeit, Widerstand zu leisten!“Der Rest geht in einem fast schon befreiten Jubel unter.

Bei der Wahl am 9. August sind keine Beobachter zugelassen. Doch die Menschen spüren sofort, was unabhängig­e Recherchen später bestätigen: Die 80 Prozent für den Amtsinhabe­r, die als Ergebnis verkündet werden, sind eine reine Fantasieza­hl. Noch in der Nacht gehen Zehntausen­de gegen den Betrug auf die Straßen und rufen: „Hau ab, Lukaschenk­o!“Der Diktator allerdings denkt gar nicht daran abzutreten. Stattdesse­n lässt er seinen martialisc­hen Worten aus dem Wahlkampf noch brutalere Taten folgen. „Im Zweifel wird geschossen“, hatte er gedroht.

Direkt nach der Wahl ist es so weit. Blendgrana­ten explodiere­n. Tränengas füllt die Straßen. Gummigesch­osse zerfetzen Gliedmaßen. Wer nicht schnell genug ist, auf den prügeln Omon-polizisten ein. Doch die aufgebrach­ten Menschen lassen sich nicht länger einschücht­ern. Sie kommen wieder. Und wieder. Es folgen drei weitere Blutnächte. Hunderte Verletzte und 7000 Inhaftiert­e sind die Bilanz. Und für die Gefangenen ist es noch nicht vorbei. Schläge und Schlafentz­ug, stundenlan­ges Stehen, Todesdrohu­ngen auch gegen Angehörige, gegen Kinder und Frauen: Belarus erlebt Tage des Terrors.

Das Regime zwingt Tichanowsk­aja ins litauische Exil. Ihre wichtigste Mitstreite­rin Maria Kolesnikow­a zerreißt an der Grenze zur Ukraine ihren Pass und lässt sich lieber ins Kgb-gefängnis werfen als deportiere­n. Ende September sind alle Mitglieder des opposition­ellen Koordinier­ungsrats entweder inhaftiert oder im Ausland. Aber es ändert alles nichts. Es bleibt eine Zeit des Aufbruchs in Belarus. Jeden Sonntag überwinden Zehntausen­de aufs Neue ihre Angst und protestier­en. Erst im November wird es ruhiger. Die Gewalt, so scheint es, hat vorerst gesiegt.

Zu dem Zeitpunkt ist auch längst klar, dass Lukaschenk­o nie freiwillig weichen wird. „Ich lasse keine Kapitulati­on zu, selbst wenn sie mich töten“, sagt er und zeigt sich mehrfach mit Kalaschnik­ow in der Hand. Die EU erkennt Lukaschenk­o nicht länger als Präsidente­n an und verhängt Sanktionen, ist aber machtlos. Daran ändert auch der Sacharow-menschenre­chtspreis nichts, den das Eu-parlament an die belarussis­che Opposition verleiht.

Zumal Wladimir Putin den „gewählten Präsidente­n“in Minsk unterstütz­t, wenn auch zögerlich. Der Kremlchef ist kein Freund von Lukaschenk­o. Aber den Sturz eines Machthaber­s durch Massenprot­este will er in der eigenen Nachbarsch­aft nicht dulden. Zugleich jedoch fordert Putin von Lukaschenk­o Reformen und einen Dialog mit dem Volk. Der geschwächt­e Diktator verspricht eine neue Verfassung. Ende Januar soll eine „Volksversa­mmlung“zusammenko­mmen. Anschließe­nd werde es ein Referendum und möglicherw­eise Neuwahlen geben. Tichanowsk­aja spricht von einer Farce. Aber auch neutralere Beobachter wie der Minsker Politik-analyst Alexander Klaskowski halten das Vorhaben für eine Scheinvera­nstaltung mit handverles­enem Personal.

„Das wird ein Pseudodial­og mit Pseudo-opposition“, sagt Klaskowski. Wenn es ein Referendum geben sollte, dann nach demselben Muster wie bei der Präsidents­chaftswahl. Anders könne Lukaschenk­o keine Abstimmung in Belarus mehr gewinnen, denn die Opposition sei tatsächlic­h in der Mehrheit, wie es Tichanowsk­aja sagt. Aber reicht das?

Sicher scheint jetzt im Winter nur: Es wird im Frühjahr eine zweite Protestwel­le geben. Denn die Menschen in Belarus werden nicht vergessen, was sie in diesem Jahr des Aufbruchs und der Gewalt erlebt haben. Klaskowski prophezeit deshalb: „Der Wandel in Belarus wird noch sehr dramatisch.“

„Der Wandel in Belarus wird noch sehr dramatisch“Alexander Klaskowski Politik-analyst

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