Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Die elf besten Romane 2020
Unter den Tausenden deutschsprachigen Neuerscheinungen haben wir die herausragenden Leseerlebnisse des Corona-jahres herausgepickt.
2. Marco Balzano: „Ich bleibe hier“(Diogenes, 286 S., 22 Euro):
Ein Kirchturm ragt einsam aus einem blau schimmernden Bergsee. Man muss nicht über den Reschenpass gefahren sein, um dieses Bild zu kennen. Balzano erzählt, zwischen Fakten und Fiktionen balancierend, die Geschichte von Graun, dem Dorf, das der Zukunft weichen und in einem Stausee untergehen musste. Eine aufrüttelnde Parabel über Mut, Leid und Werte, für die es sich lohnt zu kämpfen.
3. Lutz Seiler: „Stern 111“(Suhrkamp, 528 S., 24 Euro): Es gibt keinen zweiten Autor, der so süffisant und sensibel, witzig und wagemutig vom alltäglichen Mief und hinterlistigen Widerstand im untergehenden Realsozialismus und den hanebüchenen Missverständnissen der deutschen Einheit erzählen kann. Im neuen Roman fällt nicht nur die Mauer in sich zusammen, sondern bricht auch eine Familie auseinander. In der DDR war „Stern 111“ein viel gekauftes Radiogerät, heute ist daraus ein augenzwinkernder politischer Lesespaß geworden.
4. Graham Swift: „Da sind wir“(DTV, 160 S., 20 Euro): Ein Magier verschwindet, spurlos und für immer. Bei einer Vorstellung zaubert er sich einfach weg und kehrt nie wieder zurück. Jahrzehnte vergehen, für die ehemalige Verlobte und den besten Freund des verschwundenen Illusionisten bleiben nur die Erinnerungen an einen Mann, der sich aus der Tristesse der englischen Arbeiterklasse ins Rampenlicht des Show-geschäfts emporkatapultiert hatte und mit seinem kuriosen Abgang ein großes Geheimnis hinterlässt. 6. Bov Bjerg: „Serpentinen“(Claassen, 270 S., 22 Euro): Seine Ehe ist nur noch ein Scherbenhaufen, die Beziehung zum Sohn gestört, die Zukunft ungewiss. Um mit sich ins Reine zu kommen, fährt der Erzähler mit seinem Sohn von Berlin aus zurück in seine Kindheit. Überall winken der Tod, Gräber von Verwandten und Freunden und die Angst vor dem Suizid, den bisher noch jeder männliche Vorfahr des Erzählers begangen hat. Erlösung können nur die ungeschminkte Erinnerung und der Mut bringen, endlich seinem Sohn das zu sein, was er am meisten braucht: einen Vater. Ein zutiefst trauriger und doch hoffnungsfroher Roman.
7. Ilija Trojanow: „Doppelte Spur“(S. Fischer, 240 S., 22 Euro): In einer Welt, die von „Fake News“und „geleakten Dokumenten“beherrscht wird und in der niemand mehr weiß, was Wahrheit ist und was Lüge, kann die Literatur behilflich sein, einen Ausweg aus dem Labyrinth der Manipulation zu finden. Trojanow wagt eine Reise ins Herz der Finsternis, verkleidet sich als investigativer Journalist, gewinnt Einblick in die zersetzende Wirkung von Macht und Geldgier. Von russischen und amerikanischen Geheimnissen wird ihm Material zugespielt, das genauso gut wahr wie erfunden sein kann. Eine furchterregende Lektüre, die einem die Augen für die Dinge öffnet, die man lieber gar nicht gesehen hätte.
8. Olga Tokarczuk: „Letzte Geschichten“(Kampa, 290 S., 24 Euro): Eine