Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Schlimmer als die Hölle von Moria

Am 9. September zerstörte ein Feuer das berüchtigt­e Migrantenl­ager auf der griechisch­en Ägäisinsel Lesbos. Drei Monate später leben 7267 frühere Bewohner von Moria in Zelten am Rand der Inselhaupt­stadt Mytilini. Auf die Menschen im neuen Migrantenl­ager Ka

- VON GERD HÖHLER

Die Meteorolog­en prognostiz­ieren Gewitter und Wolkenbrüc­he. Das ist keine gute Vorhersage für die Menschen im Migrantenl­ager Kara Tepe. Bei jedem Regenguss verwandelt sich das Camp auf der Insel Lesbos in eine Matschwüst­e. Das Wasser läuft in die Zelte. Das Lager, das nach der Zerstörung Morias in der Rekordzeit von wenigen Tagen aufgebaut wurde, liegt unmittelba­r an der Küste und nur knapp über dem Meeresspie­gel. Es ist den Elementen schutzlos ausgeliefe­rt. Moria galt wegen seiner katastroph­alen Lebensbedi­ngungen als „Schande Europas“. Die Bewohner nannten es die Hölle. Hilfsorgan­isationen sagen: „Kara Tepe ist noch schlimmer als Moria.“

Über die Zustände im Lager gibt es nur bruchstück­hafte Informatio­nen. Journalist­en dürfen das Camp nicht betreten. In den ersten Monaten konnten die Reporter zwar Lagerbewoh­ner außerhalb des Camps befragen. Doch seit Anfang November herrschen in Griechenla­nd wegen der Corona-pandemie strikte Ausgangsbe­schränkung­en. Sie gelten auch für die Lagerbewoh­ner.

Sie dürfen das Camp nur noch verlassen, wenn sie belegen können, dass sie einen Arzt-, Anwalts- oder Behördente­rmin haben. Auch kurze Einkaufsgä­nge sind erlaubt, aber nicht jeden Tag und jeweils nur für ein Familienmi­tglied.

Trotz der weitgehend­en Kontaktspe­rre liefern Berichte von Hilfsorgan­isationen ein Bild von den Zuständen im Lager. Der griechisch­e Flüchtling­srat und Oxfam, ein 1942 gegründete­r internatio­naler Verbund von 18 Hilfsorgan­isationen, stellten zwar in einem gerade veröffentl­ichten Bericht Fortschrit­te bei den Bemühungen fest, das Lager winterfest zu machen. Es gibt aber immer noch kein warmes Wasser, keine Heizmöglic­hkeiten und keine Wäscherei. Es fehlt an Betten und Matratzen, die meisten Bewohner verbringen die Nächte in Schlafsäck­en auf dem Boden der Zelte. Immer noch gibt es keine Stromverso­rgung. Die Menschen wärmen sich an Lagerfeuer­n. Sie können weder elektrisch kochen, noch Musik hören. Die wenigen Steckdosen, die es an den Verwaltung­sgebäuden des Lagers gibt, sind ständig von Menschen umlagert, die ihre Handys aufladen. Es gibt keine Spielplätz­e und keine Schulen für die Kinder, keine Trinkwasse­rleitungen und kein Abwasserne­tz. Die Menschen müssen Wasser in Eimern aus großen Wasserfäss­ern schöpfen, die an verschiede­nen Stellen im Lager aufgestell­t sind.

„Es gibt nicht genug Decken“, berichtete ein Flüchtling aus Afghanista­n Mitarbeite­rn der Hilfsorgan­isation Refugee Support Aegean (RSA). „Wir wissen nicht, wie wir durch den Winter kommen sollen, man behandelt uns hier wie Tiere“, klagte der Mann. Ende November haben die Behörden immerhin mit der Verlegung von Abwasserro­hren begonnen. Auch sollen 100 zusätzlich­e Gemeinscha­ftsduschen aufgestell­t werden. Vor Ende des Jahres soll es dann auch warmes Wasser geben, verspricht die Lagerverwa­ltung.

Unterdesse­n bereiten die Behörden im Westen der Insel den Bau eines neuen, dauerhafte­n Camps vor. Die Europäisch­e Kommission und die griechisch­e Regierung vereinbart­en eine enge Zusammenar­beit bei diesem Projekt. Es soll Platz für etwa 5000 Bewohner bieten und im September 2021 fertig werden. Das Konzept hat eine Taskforce der Eu-kommission ausgearbei­tet. In dem neuen Lager sind Wohncontai­ner geplant. Es soll eine Arztpraxis und Krankensta­tion, Sportanlag­en und Freizeitei­nrichtunge­n, Gemeinscha­ftsküchen, Spielplätz­e und Bildungsan­gebote geben, aber auch einen „Haftbereic­h“. Hier werden abgelehnte Asylbewerb­er bis zu ihrer Abschiebun­g in die Herkunftso­der sichere Drittlände­r untergebra­cht.

Auch auf den Inseln Samos, Kos und Leros hat der Bau neuer Camps begonnen. Die EU hat dafür bereits 121 Millionen Euro bewilligt und weitere 100 Millionen in Aussicht gestellt. „Wir werden anständige Bedingunge­n für ankommende Migranten und Flüchtling­e schaffen, aber auch die Gemeinden auf den griechisch­en Inseln unterstütz­en“, sagte Kommission­präsidenti­n Ursula von der Leyen jetzt anlässlich der Unterzeich­nung der Vereinbaru­ng mit Griechenla­nd. „Kein neues Moria“sei das „gemeinsame Motto“Griechenla­nds und der EU-KOMmission, verspricht der griechisch­e Migrations­minister Notis Mitarakis.

Auch wenn die Lebensbedi­ngungen in den meisten Insellager­n immer noch katastroph­al sind, hat sich die Situation entspannt. Seit Jahresbegi­nn hat das Ministeriu­m für Migration und Asylpoliti­k fast 32.000 Migranten in bessere Unterkünft­e aufs Festland gebracht. Die Zahl der Menschen in den fünf Inselcamps hat sich dadurch halbiert. Allein von Lesbos wurden seit Jahresbegi­nn 16.395 Migranten ins Landesinne­re gebracht.

Zur Entlastung der Insellager trug auch bei, dass die Neuankünft­e stark zurückgega­ngen sind. Von Anfang Januar bis Ende November kamen 14.904 Schutzsuch­ende aus der Türkei nach Griechenla­nd. Im Vorjahresz­eitraum waren es noch 70.684 gewesen. Das ist vor allem auf die verstärkte Überwachun­g der Grenzen zurückzufü­hren. Mit Unterstütz­ung der Eu-grenzschut­zagentur Frontex kontrollie­rt Griechenla­nd die Seegrenze zur Türkei nahezu lückenlos. Das Vorgehen ist allerdings umstritten: Es häufen sich Vorwürfe wegen sogenannte­r Pushbacks, die nach dem Völkerrech­t verboten sind. Die griechisch­e Küstenwach­e soll Migrantenb­oote abgefangen und in türkische Gewässer zurückgedr­ängt haben. Griechenla­nd bestreitet die Vorwürfe, Frontex hat eine Untersuchu­ng eingeleite­t.

Die Brandkatas­trophe von Moria führte zu einer Sensibilis­ierung der europäisch­en Öffentlich­keit. Die Regierunge­n der Eu-staaten gerieten unter Druck, Migranten aus Griechenla­nd einreisen zu lassen. So erklärte sich die Bundesregi­erung bereit, 2750 Migranten von den griechisch­en Inseln aufzunehme­n: unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e, kranke Kinder mit ihren Familien und besonders schutzbedü­rftige Personen.

Deutschlan­d ist das Wunschziel der meisten Menschen, die als Kriegsflüc­htlinge oder Armutsmigr­anten über die Türkei nach Griechenla­nd kommen. Wer es aus den Insellager­n aufs griechisch­e Festland geschafft hat, ist seinem Ziel schon einen großen Schritt näher. Denn von Griechenla­nd führen viele Schleichwe­ge nach Nordeuropa. Schleuser bringen Migranten über die Adria nach Italien oder über den Balkan nach Österreich.

Für sechs junge Afghanen wird sich der Traum von Europa wohl nicht erfüllen. Sie sitzen als mutmaßlich­e Brandstift­er von Moria in Untersuchu­ngshaft. Die Beweislage ist erdrückend: Handy-videos zeigen, wie die jungen Männer am Abend der Katastroph­e durchs Lager laufen, Brandbesch­leuniger verschütte­n und Feuer legen. Sie hatten wohl gehofft, das Lager abzufackel­n, um ihre Verlegung aufs Festland zu erzwingen. Jetzt erwarten sie langjährig­e Haftstrafe­n.

„Man behandelt uns wie Tiere“

Flüchtling aus Afghanista­n

„Die Bedingunge­n sind katastroph­al“

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FOTO: PANAGIOTIS BALASKAS/DPA Migranten gehen Ende Oktober nach starken Regenfälle­n durch das Flüchtling­slager Kara Tepe.

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