Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
„Die Zahlen vermitteln ein falsches Bild“
HENDRIK STREECK Der Virologe hält weder den Inzidenzwert noch die Zahl der Neuinfektionen für einen sinnvollen Richtwert.
Herr Professor Streeck, harte Maßnahmen für weitere acht bis zehn Wochen sind gerade im Gespräch. Werden wir bis Ostern mit dem Lockdown leben müssen?
STREECK Es ist grundsätzlich richtig, das Ziel zu haben, die Zahlen zu senken und sie niedrig zu halten. Ich bin aber skeptisch, dass dies im Winter gelingen wird. Ein Problem ist, dass wir weiterhin keine Richtschnur, keinen Kompass definiert haben und uns daher weiterhin von Lockdown zu Lockdown hangeln.
Es gibt doch die tägliche Zahl der Neuinfektionen, den Grenzwert von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner und die Zahl zur Intensivbetten-auslastung.
STREECK Der Grenzwert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner wird von vielen als ein wissenschaftlicher Grenzwert wahrgenommen, tatsächlich aber ist er ein von der Politik definierter Grenzwert. Er vermittelt inzwischen ein völlig falsches Bild, da wir die Teststrategie ständig verändert haben. Bei den Zahlen der Neuinfektionen sehen wir, dass diese eigentlich nicht mehr ausschlaggebend sind, sondern wir viel mehr die Auslastung der Intensivstationen im Fokus haben. Dort wissen wir aber nicht, wo die Grenzen unseres Systems sind. Vor der Pandemie sind wir von einer Kapazität von 30.000 Intensivbetten bundesweit ausgegangen, aber nun ist schon bei 4000 mit Covid-19-patienten belegten Intensivbetten die Kapazitätsgrenze erreicht. Der seit vielen Jahren bekannte und angemahnte Mangel an Fachpersonal schlägt offensichtlich voll durch, so dass Mediziner aus gutem Grund vor einer Überlastung warnen. Das müssen wir ernst nehmen und dieses nicht erst durch Corona offensichtliche Problem endlich lösen.
Ist der verlängerte Lockdown also die richtige Maßnahme?
STREECK Wir richten uns aktuell nach den Zahlen der Neuinfektionen, die wie gesagt nur bedingt aussagekräftig sind. Wir wissen nicht, wo sich die Menschen überhaupt noch anstecken. Daher bleibt fast keine andere Möglichkeit, als mit dem Hammer draufzuhauen. Wir sind ein Jahr in der Pandemie und haben nicht gelernt, wo genau und in welchen Bereichen wir uns wie häufig anstecken. Dadurch können wir jetzt noch nicht anfangen, mit dem Skalpell zu arbeiten, was aber das Ziel sein muss.
Zeigen die harten Maßnahmen seit Dezember denn Wirkung? Ist der Effekt der Kontakte zu Weihnachten und Silvester erkennbar? STREECK Dazu kann ich wenig sagen. Wie schon erwähnt ist die Aussagekraft der gemeldeten Neuinfektionen gering, der Wert wird nicht zuverlässig ermittelt. Am 3. November ist die Teststrategie angepasst worden – seitdem werden nur noch symptomatische Fälle getestet, die auch Kontakt zu Infizierten hatten. Dieser Wert ist nicht vergleichbar mit dem im Sommer, wo wir die Dunkelziffer durch massives Testen viel besser ausgeleuchtet haben. Außerdem verzerren die Antigentests, die nicht erfasst werden, das Bild. Die aktuellen Zahlen der Neuinfektionen vermitteln ein falsches Bild und sollten aus meiner Sicht daher nicht dem Zweck politischer Entscheidungen dienen.
Was müsste man denn tun? STREECK Man bräuchte zunächst eine vernünftige Datenbasis. Dafür müssten systematische, repräsentative Stichproben erhoben werden, um zu verstehen, wie das Infektionsgeschehen wirklich aussieht. Nur so kann ein Richtwert entwickelt werden, der auch konstant ist. Derzeit wissen wir wie gesagt nicht, wer sich wo und wie überhaupt ansteckt, warum es überhaupt noch Infektionen gibt, wir tappen einfach im Dunkeln. Ein einfaches Instrument wäre zum Beispiel nachzufragen, welchen Beruf die Infizierten haben. So könnte man schnell lernen, ob es besonders häufig betroffene Berufsgruppen gibt. Viele solcher Daten werden nicht erfasst.
Ist das denn Teil Ihrer Studien? STREECK Nein. Diese Forschung muss aus meiner Sicht zentral gesteuert werden, das muss jemand tun, der keine Partikularinteressen hat. Da sind Virologen und Epidemiologen als Koordinatoren genauso außen vor wie das Robert-koch-institut. Das muss aus dem Bundesgesundheitsministerium kommen.
Wie gefährlich ist die Virusmutation aus Großbritannien?
STREECK Mutationen von Coronaviren sind nicht ungewöhnlich, zu Sars-cov-2 sind allein bereits mehr als 4000 unterschiedliche Mutationen bekannt. Die britische Variante hat mit einem Koeffizienten von 0,7 eine höhere Infektiosität – eine infizierte Person steckt nicht mehr drei Menschen an, sondern 3,7. Das ist ein Anstieg, den man ernst nehmen muss. Das hat aber nicht die Dimension beispielsweise von Masern – hier liegt die Infektionswahrscheinlichkeit bei zwölf, also eine Person steckt zwölf weitere an. Die Mutation aus Großbritannien muss daher weiter untersucht und beobachtet werden. Es gibt aber keinen Grund, in Panik zu geraten.
Wie weit ist die Mutation in Deutschland verbreitet?
STREECK Das kann man nicht genau sagen, da die Labore bei den Tests regulär nicht sequenzieren, also die Corona-erreger auf Mutationen untersuchen. Die von Bundesgesundheitsminister Spahn angekündigte Sequenzier-verordnung soll dagegensteuern, Labore sollen demnach mehr Geld für die Sequenzierung erhalten. Die Gesellschaft für Virologie hatte dies übrigens bereits in einem Brief an das Bundesgesundheitsministerium im November 2019 gefordert – vor dem Wissen einer tatsächlich auftretenden Pandemie.
Wie wird die aktuelle Pandemie weitergehen?
STREECK Wir wissen von allen Coronaviren, dass die Infektionen in den Sommermonaten runtergehen. Wir werden im April wahrscheinlich langsam Erleichterung spüren und ein paar entspanntere Sommermonate erleben können.