Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Aus Angst vor dem Skandal
Erstmals konnten Journalisten Einsicht in das bislang zurückgehaltene Münchener Missbrauchsgutachten zum Kölner Erzbistum nehmen. Es nimmt eine moralische Bewertung vor – und nennt Paranoia als Ursache der Vertuschung.
Es gibt keine neuen Pflichtverletzungen der Kölner Bistumsleitung – das ist mit kargen Worten das Ergebnis einer Durchsicht des Missbrauchsgutachtens der Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl ( WSW). Bis gestern war es unter Verschluss, nun wurde es einigen Journalisten im Kölner Maternushaus zumindest zur Einsicht gezeigt. 90 Minuten Zeit blieben für mehr als 500 Seiten, ohnehin war der Zutritt zum Saal nur nach Voranmeldung erlaubt. Damit aber war der Zugang zum Dokument noch nicht frei. Zunächst war eine Erklärung zu unterschreiben, dass „das Vervielfältigen des Gutachtens durch Fotografien“aus rechtlichen Gründen untersagt und daher auch Handys abzugeben seien. Erlaubt blieben allein handschriftliche Notizen während der sogenannten Einsichtnahme.
Auch im Wsw-gutachten wird unter anderem den beiden früheren und inzwischen verstorbenen Kardinälen Joseph Höffner und Joachim Meisner in zahlreichen Fällen pflichtwidriges Vergalten attestiert, ebenso Norbert Feldhoff, der fast drei Jahrzehnte als Generalvikar tätig war, sowie den beiden Bischöfen Dominikus Schwaderlapp und Stefan Heße. Beide haben inzwischen Rom um die Enthebung von ihren Ämtern gebeten.
Nicht erwähnt wird im WSW-GUTachten der heutige Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki, der früher als Geheimsekretär Meisners (in der Zeit von 1990 bis 1997) sowie als Weihbischof im Erzbistum (2003 bis 2011) wirkte. Da auch die Münchner ihm kein pflichtwidriges Verhalten im Umgang von Missbrauchsfällen nachweisen konnten, bleibt sein Handeln in dem Dokument unerwähnt. So werden insgesamt 15 Fälle im Münchener Gutachten herausgegriffen, die ausschließlich das Fehlverhalten von Amtsträgern kenntlich machen.
Allerdings unterscheidet sich die Wsw-expertise vom Gutachten des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke, das das Erzbistum anschließend in Auftrag gab und das vergangene Woche vorgestellt wurde, ansatzweise in der moralischen Bewertung. So sehen die Münchner eine Ursache für sexualisierte Gewalt von Geistlichen an Kindern in dem hohen Selbstbild der Priester. Daraus resultiere die mangelnde Bereitschaft, das eigene Handeln zu überprüfen und zu reflektieren. Das habe zu einer „Wagenburgmentalität“geführt, mit dem fatalen Ergebnis, dass die mitbrüderliche Sorge – selbst bei Sexualschwerststraftätern – Vorrang vor der Opferfürsorge gehabt habe.
Natürlich sei eine „ungesunde Überhöhung des Priesterbildes auch theologisch und pastoral ein Problem“, so der Theologe und Psychiater Manfred Lütz; er gab aber zu bedenken, dass es „bisher keinen seriösen wissenschaftlichen Hinweis auf einen Zusammenhang von Zölibat und Missbrauch“gibt.
Das Wsw-gutachten attestiert eine paranoide Angst der kirchlichen Hierarchie, die vor einem Skandal geherrscht habe. Das Bild einer im priesterlichen Sinne befleckten Kirche, so resümieren die Juristen aus München, musste aus Sicht der Bistumsleitung unbedingt vermieden werden. Dem unbedingten Schutz von Verantwortlichen wurde höchste Priorität eingeräumt. Das spiegelt sich auch in den Interviews wider, die die Gutachter mit den beschuldigten Verantwortungsträgern führten und dabei mitunter auf Verteidigung und Leugnung eigener Schuld stießen.
Zu den systemischen Ursachen für Missbrauch führt WSW das priesterliche, auch zölibatäre Leben sowie die Machtfülle des Amtes an, der nicht mit entsprechendem Verantwortungsbewusstsein begegnet wurde. Die Münchner Gutachter raten dem Kölner Erzbistum unter anderem zu psychologischen Tests von Priesteramtskandidaten – ohne die Anwärter unter Generalverdacht zu stellen –, zu einem größeren Anteil von Frauen in der Bistumsleitung sowie der Beschäftigung qualifizierter Laien im Personalbereich. Außerdem empfiehlt WSW in seinem Gutachten, die Amtszeiten höher gestellter Geistlicher – etwa des Generalvikars – zeitlich zu begrenzen, da auch Beharrungskräfte mögliche Fehlentwicklungen begünstigen würden.
Unserer Redaktion erklärte Björn Gercke, der das freigegebene und kürzlich publizierte zweite Gutachten erarbeitet hat, dass er in seiner Untersuchung auf 75 konkrete Pflichtverletzungen kommt, während es die Münchener Kollegen bei 67 beließen. Und: „Kardinal Woelki wurde von uns, anders als von den Münchener Kollegen, nicht im Vorfeld darüber informiert, wie wir sein Verhalten bewerten“, so Gercke, der von „gravierenden methodischen Mängeln des Münchener Gutachtens“spricht, wie es zuvor die Strafrechtswissenschaftler Matthias Jahn und Franz Streng – getan haben. Das Wsw-gutachten wurde wegen äußerungsrechtlicher Bedenken und angeblicher methodischer Mängel nicht veröffentlicht. Für Lütz ist das WSW-GUTachten letztlich „schlecht“. Nach seinen Worten sei die „Bestellung dieser Kanzlei eine Verfehlung“des Erzbistum gewesen.
Nach dem vollständig online veröffentlichten Gercke-gutachen soll es inzwischen nach Aussage des Erzbistums eine große internationale Nachfrage geben. Die Kanzlei Gercke & Wollschläger selbst erreichten Anfragen von Betroffenen und Betroffenenorganisationen aus Brasilien, Irland, Italien, Polen und der Slowakei. Kardinal Woelki hat aus diesem Grund entschieden, das Gutachten in mehrere Sprachen übersetzen zu lassen. Das umstrittene Münchener Gutachten liegt zur Einsicht noch bis zum 1. April in Köln aus. Interessierte können sich beim Erzbistum für einen 90-minütigen Termin anmelden.