Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Ein Opa als „Comeback-kid“

Evan Osnos zeigt ein facettenre­iches Porträt des Us-präsidente­n Joe Biden.

- VON JAN-HENDRIK DANY

Böse Zungen behaupten, Joe Biden sei einzig und allein deshalb zum neuen amerikanis­chen Präsidente­n gewählt worden, weil er nicht Donald Trump ist. Selbst wenn dem so sein sollte, bleibt die Frage, was für ein Mensch sich hinter der – immer ein wenig hölzern wirkenden – Fernsehfas­sade des betagten Demokraten verbirgt. Evan Osnos' Porträt liefert Antworten auf diese Fragestell­ung. Präzise Antworten. Wer als Schulkind stottert und Hohn und Spott über sich ergehen lassen muss. Wer mit 30 den Unfalltod seiner Frau und seiner einjährige­n Tochter zu verkraften hat. Wer den einen Sohn an Drogen und den anderen an den Krebs verliert. Wer selbst infolge eines Hirnaneury­smas im Alter von 46 Jahren die letzte Ölung erhalten hat und trotzdem (nach diversen vergeblich­en Anläufen) noch ins Weiße Haus einzieht, stellt vor allem eines unter Beweis: Nehmerqual­itäten, innere Stärke, Willenskra­ft. Kein Zweifel, Joe Biden ist der Prototyp der Sozialfigu­r, die die Amerikaner lieben. Er ist ein „Comeback Kid“.

Evan Osnos, Journalist und Buchautor, zeichnet all diese schicksalh­aften Wendungen auf berührende Weise nach, ohne dabei ins Verkitscht­e abzudrifte­n. Der Pulitzer-preisträge­r beeindruck­t in „Joe Biden“generell durch seine Fähigkeit zu gelungenen Gratwander­ungen. Osnos widmet sich Bidens persönlich­en und politische­n Stärken voller Respekt und Wertschätz­ung. Gleichzeit­ig spießt er die „kratzbürst­igen Seiten“des 79-Jährigen, dessen charakterl­iche Defizite und persönlich­e Verfehlung­en konsequent auf. Bis hin zu den kosmetisch­en und chirurgisc­hen Veränderun­gen am Äußeren des Präsidente­n; bis hin zu Bidens, gelinde gesagt, programmat­ischer Wendigkeit und dessen Neigung, wie ein „aufgeblase­ner Aufschneid­er“zu wirken. Kurzum: Osnos ist ein Meister journalist­ischer Distanz. Er legt mit „Joe Biden“kein Gefälligke­itsgutacht­en vor, definitiv nicht.

Am Ende seiner Biden-bilanz, am Ende seines Soll-und-haben-abgleichs stellt der 44-Jährige dennoch die These auf, dass der neue US-PRÄsident aufgrund der von ihm durchlebte­n Schicksals­schläge für die Rolle, die „zerrissene Nation“wieder zu einen, geradezu prädestini­ert sei. Weil Biden empathisch (geworden) sei. Weil er gelernt habe, Menschen zuzuhören. Weil er das „Image des liebenswer­ten Großvaters“nutzen werde – und weil er im Unterschie­d zu vielen anderen Berufspoli­tikern ungekünste­lt mit dem Wahlvolk reden könne.

Osnos' These klingt plausibel. Bis auf den Part, in dem er sie um den Ausblick ergänzt, Biden werde einen „neuen politische­n Aufbruch“ermögliche­n. Bei allem Respekt: Osnos verlangt der Leserschaf­t seines Porträts (das der Suhrkamp-verlag zu Recht als „brillante Nahaufnahm­e“anpreist) an dieser Stelle eine Überdosis Fantasiebe­gabung ab. Ein dermaßen gebrechlic­h wirkender Mann, der stramm auf die 80 zugeht, als eine Art neuer Kennedy? Selbst so mancher Biden-anhänger dürfte diese Fragestell­ung dann doch mit einem klaren „No“beantworte­n.

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FOTO: DPA Us-präsident Joe Biden spricht im April vor dem Kongress.
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Joe Biden – ein Porträt, Berlin, 2020, 263 Seiten, 18,95 Euro
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Die WikipediaS­tory: Biografie eines Weltwunder­s, Frankfurt/new York 2020, 232 Seiten, 22,95 Euro

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