Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Wie halten wir es mit der Moral?
FORSCHUNG IN DÜSSELDORF Ob in der Pandemie oder bei der Müllentsorgung – eine Düsseldorfer Philosophin erforscht menschliches Verhalten aus ethischer Sicht.
DÜSSELDORF Das Richtige tun. Sich anderen gegenüber fair verhalten. Nach moralischen Werten leben. Wer will das nicht? Die Realität lehrt: Nicht nur der Einzelne, auch die Gesellschaft geraten dabei an Grenzen. Das zeigt sich gerade in Zeiten der Pandemie mit dem Schreckens-szenario der Triage, wenn also weniger Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen als gebraucht werden und es um die Entscheidung geht, um welches Menschenleben vorrangig gekämpft wird. Dass es auch in anderen Situationen schwierig sein kann, sich aus ethischer Sicht richtig zu verhalten, erforscht die Düsseldorfer Philosophin Amrei Bahr. Also: Wie halten wir es mit der Moral?
„Eindeutige Antworten sind oft schwierig“, meint Amrei Bahr. Die Philosophin hat sich auf die „Angewandte Ethik“spezialisiert und erforscht, wie menschliches Verhalten unter moralischen Gesichtspunkten sein sollte - im Alltag und an ganz praktischen Beispielen. Wobei wir beim Müll sind, beziehungsweise bei der „Ethik der Abfallentsorgung“, einem ihrer Forschungsprojekte. „Jeder findet das Recycling von Abfällen im Prinzip gut, denn es hat zwei große Vorteile: Zum einen kann es die immensen Abfallmengen reduzieren, die von uns erzeugt werden, zum anderen werden Ressourcen geschont.“Aus ethischer Sicht also mag es deshalb eindeutig richtig erscheinen, dass so viel Müll recycelt werden sollte wie nur möglich.
Wäre da nicht auch eine Schattenseite. So landen trotz Verbote der Europäischen Union jedes Jahr immer noch tonnenweise Elektroschrott wie defekte Laptops, Handys, Fernseher und Kühlschränke aus Europa in Ghana. Die Arbeiter schmelzen ohne Schutzkleidung die Plastikverkleidungen der Geräte über offenem Feuer, um an wertvolle Rohstoffe zu kommen. Dabei entstehen giftige Dämpfe mit verheerenden Folgen für die Gesundheit und die Umwelt. „Das für die Industrieländer vergleichsweise kostengünstige Recycling ist oft nur möglich zum Preis niedriger Löhne und schlechter Arbeitsbedingungen für Menschen im globalen Süden“, kritisiert Bahr. Und kommt damit zum Kern: Die westliche Welt trägt ihre Probleme auf dem Rücken anderer aus.
Die Müllentsorgung nach Afrika ist laut Bahr ein typisches Beispiel dafür, „warum wir Angewandte Ethik brauchen.“Sie lenke den Fokus darauf, was für die eine Seite richtig erscheinen mag, für andere aber schädlich sein kann. Und leiste so einen wichtigen Beitrag zur öffentlichen Debatte. „Ziel meiner Forschung ist es zu klären, unter welchen Umständen und für wen es moralisch geboten, erlaubt oder verboten ist, zu recyceln. Und wie es möglich ist, dabei verschiedene globale Interessen fair und gerecht zu berücksichtigen.“
Wobei „fair“und „gerecht“Schlüsselwörter sind bei einem anderen ihrer Forschungsschwerpunkte: dem Kopieren. Auch dabei existiert eine Diskrepanz der Interessen: „Einen Text oder anderes zu kopieren kann für die Öffentlichkeit von Nutzen sein, weil es den Zugang zu Bildung erleichtert. Andererseits haben Urheber*innen das Nachsehen“, so Bahr. Die Philosophin verweist als Beispiel auf die digitalen Museen, die jedem einen virtuellen Rundgang durch die Welt der Kunst ermöglichen sollen. Die Urheberrechte aber verhindern, dass Fotos von Werken ohne Einwilligung des Künstlers im Internet hochgeladen werden. Sogar nach dessen Tod haben die Erben noch ein Wort mitzureden. „Dabei steht das Recht der Urheber gegen das öffentliche Interesse.“
Eindeutig zu weit ginge der Urheberschutz, so die Philosophin, wenn nicht nur Künstler, sondern auch Verlage, Labels und andere Verwerter in diesen Schutz miteinbezogen würden. Wenn Amrei Bahr also einen Text bei einem Wissenschaftsverlag veröffentlichen möchte, bekommt sie in der Regel dafür kein Honorar, muss sich ferner mit mehreren Tausend Euro an den Druckkosten beteiligen und alle Rechte an den Verlag abtreten. Will nun jemand ihren Text nutzen, was durchaus im Interesse der Wissenschaftlerin sein kann, muss derjenige dafür Geld an den Verlag zahlen. Gerecht? Für die Philosophin keine Frage: „Die Verwerter haben Vorteile, die ihnen eigentlich gar nicht zustehen.“Besonders schwierig ist das Abwägen verschiedener Interessen unter ethischen Gesichtspunkten in Zeiten der Pandemie. Zwar dürfe es keine Impfpflicht geben, die Entscheidung müsse jeder autonom treffen können, so Bahr. „Aber wir müssen uns mit der Frage auseinandersetzen, wieweit ich andere gefährde, jemandem einen Platz auf der Intensivstation wegnehme, wenn ich mich nicht impfen lasse.“Auf die Probleme der Triage gibt es nach ihrer Einschätzung bisher keine befriedigende Antwort. Wenn zwischen zwei Menschenleben entschieden werden müsse, komme die Ethik an ihre Grenzen. „Das bleibt eine verzweifelte Debatte.“