Rheinische Post – Düsseldorf Stadt

Projekt rettet Opfer vor dem Vergessen

Erinnern und Gedenken an die Opfer der Nationalso­zialisten: Das ist das Ziel der Initiative „ Jeder Name zählt“. Schüler der französisc­hen Schule Düsseldorf haben sich daran beteiligt und Daten von Kz-häftlingen digitalisi­ert.

- VON MARLEN KESS

MÖRSENBROI­CHIM Konzentrat­ionslager Buchenwald bei Weimar wurden zwischen 1937 und 1945 rund 266.000 Menschen von den Nationalso­zialisten inhaftiert. Mehr als 50.000 von ihnen wurden ermordet oder starben an Hunger und Erschöpfun­g. Die Namen der Häftlinge wurden auf Karteikart­en vermerkt, teilweise mit Geburts- und Sterbedatu­m, mit dem Ort ihrer Deportatio­n, mit der Todesursac­he. Diese Karten werden im Arolsen Archiv in Bad Arolsen aufbewahrt, dem weltweit größten Archiv zu Opfern und Überlebend­en der Ns-zeit. Die Dokumente werden nach und nach digitalisi­ert, rund 30.000 sind schon online einsehbar – und dabei sollen Freiwillig­e aus aller Welt helfen. „Jeder Name zählt“heißt die Initiative, an der sich vor Kurzem auch 26 Schülerinn­en und Schüler der französisc­hen Schule beteiligt haben.

Organisier­t hat das Projekt Geschichts­lehrerin Annick Berthod als Ersatz für eine ausgefalle­ne Fahrt nach Polen. Seit vielen Jahren fährt die Geschichts­lehrerin mit ihren Schülern auch nach Auschwitz, die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalso­zialisten ist ihr ein wichtiges Anliegen. „In Frankreich spricht man dabei von Erinnerung­spflicht, ich finde Erinnerung­sarbeit aber passender“, sagt Berthod, „denn genau das haben die Schülerinn­en und Schüler bei dem Projekt gemacht.“

Der Zugriff ist einfach: Nach der Registrier­ung bekommt man einen Link geschickt, kann online die Karteikart­en einsehen und die verfügbare­n Daten in ein Formular eintragen. „So kann man selbst etwas beitragen zur Erinnerung­skultur“, sagt Anthony Nana (17). Die Schüler nahmen sich die Aufgabe jeder von zu Hause, aber in kleinen Gruppen, vor. Es hat sie tief beeindruck­t. „Das war schockiere­nder als jeder Unterricht“, sagt Nana. Und auch Amélie Bolz (16) sagt: „Es war gut, in der Gruppe zu arbeiten und mit dem Thema nicht alleine zu sein.“

Vorher habe man sich das Ganze nicht vorstellen können, trotz allem, was man in der Schule gelernt habe, sagt Lena Tamic (17). „Durch das Projekt kann ich es mir jetzt vorstellen und mich viel bewusster damit auseinande­rsetzen.“Für Ferdinand Voigt war vor allem ein Aspekt eindrückli­ch: „Hinter jeder Karte steckt ein Mensch, ein ganzes Leben. Das zu realisiere­n, hat mich sehr berührt.“Der 17-Jährige nahm die Projektarb­eit zum Anlass, in seiner eigenen Familienge­schichte zu recherchie­ren: Sein Urgroßvate­r Fritz war im Widerstand aktiv und am Stauffenbe­rg-attentat im Juli 1944 beteiligt. Am 1. März 1945 wurde Fritz Voigt in Berlin-plötzensee hingericht­et. „Ich bin der Geschichte jetzt ganz anders nah gekommen“, sagt er, „und kann sagen: Ich bin stolz auf meinen Uropa.“

Viele von ihnen seien von den Schicksale­n der Menschen sehr berührt worden, erzählt die 17-jährige Cécile Guegan. „Ich habe angefangen, mir anhand der Daten das Leben der Person vorzustell­en“, sagt sie, „und habe mich dann gefragt: Was ist eigentlich der Unterschie­d zwischen uns und ihnen?“Auch Lena Tamic nahm sich viel Zeit für jede einzelne Karte. „Ich wollte die Leute ein bisschen kennenlern­en“, sagt die 17-Jährige. Einer habe als Schuster gearbeitet, ein anderer als

Soldat. „Das waren ganz normale Leute mit ganz normalen Leben. Und trotzdem mussten sie sterben. Das hat mich sehr traurig gemacht.“

Zwischendu­rch mussten einige Schüler eine kurze Pause machen, andere suchten im Anschluss das Gespräch mit ihren Familien. Für Anthony Nana war die Arbeit hingegen gut auszuhalte­n, sagt er: „Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich auch ein bisschen abgestumpf­t bin“, sagt er. Er habe aber auch einen gewissen Ehrgeiz entwickelt und nach Ablauf der zwei Stunden noch weitergema­cht. „Ich habe gedacht: Irgendwie bin ich es den Familien schuldig, so viele Karten wie möglich zu schaffen.“

Und die Arbeit der Schülerinn­en und Schüler ist noch nicht zu Ende. Sie können sich gut vorstellen, auch

in ihrer Freizeit noch einmal Karten zu digitalisi­eren. „Ich habe mir die Seite extra als Lesezeiche­n gespeicher­t, um noch einmal darauf zugreifen zu können“, sagt Cécile Guegan. Amélie Bolz ergänzt: „Ich fühle mich als Deutsch-französin ohnehin dazu verpflicht­et, die Erinnerung an diese Zeit weiterzutr­agen. Jetzt kann ich dazu noch anderen von der Initiative erzählen.“Viele junge Menschen wollten schließlic­h etwas tun, wüssten aber nicht wie. Für Lehrerin Annick Berthod ist das einer der wichtigen Aspekte des Projekts: „Das werden sie mitnehmen für ihr ganzes Leben.“Davon ist auch Cécile Guegan überzeugt. „Vorher waren es bloß Fakten, die wir gelernt haben, war es die Geschichte“, sagt die 17-Jährige, „jetzt ist es unsere Geschichte.“

 ??  ??
 ?? RP-FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Im Unterricht mit Geschichts­lehrerin Annick Berthod tauschen sich die Schüler über ihre Recherchen und Erfahrunge­n bei dem Projekt aus.
RP-FOTO: ANDREAS BRETZ Im Unterricht mit Geschichts­lehrerin Annick Berthod tauschen sich die Schüler über ihre Recherchen und Erfahrunge­n bei dem Projekt aus.
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany