Rheinische Post – Düsseldorf Stadt
Bühne frei in Mülheim
Nirgends bekommt man einen so guten Überblick über das Schaffen deutschsprachiger Dramatiker wie beim Mülheimer „ Stücke“-festival. Natürlich nur digital.
MÜLHEIM AN DER RUHR Vom 13. bis zum 29. Mai werden die für den mit 15.000 Euro dotierten Mülheimer Dramatikerpreis nominierten Stücke in ihrer jeweiligen Uraufführungs-inszenierung vorgestellt. Pandemiebedingt findet das Festival in diesem Jahr digital statt. Alle Aufführungen werden unter www. stuecke.de kostenlos ins Netz gestreamt und sind mit einer Ausnahme für jeweils 30 Stunden abrufbar. Ein Überblick der Arbeiten.
Christine Umpfenbach, „9/26 – Das Oktoberfestattentat“, Münchner Kammerspiele (13./14. Mai) Christine Umpfenbach hat einen Justizund Polit-skandal aufgearbeitet. Beim Anschlag auf das Münchner Oktoberfest vom 26. September 1980 werden 13 Menschen getötet und 221 verletzt. Als der Fall 35 Jahre später erneut aufgerollt wird, stellt sich heraus, dass der Attentäter Mitglied der rechtsradikalen Wehrsportgruppe Hoffmann angehört hatte. Umpfenbach erzählt die Geschichte des Attentats und seiner schlampigen Aufklärung aus der Sicht der Opfer. Ihre Inszenierung beginnt ein wenig spröde; bald jedoch erschüttern die Schilderungen der Verletzungen und fortdauernden Traumatisierungen der Überlebenden ebenso wie die Fehler und Vertuschungsversuche der Behörden und das bürokratische Handeln der Versorgungsämter.
Thomas Freyer, „Stummes Land“, Staatsschauspiel Dresden (15./16. Mai) Ein brisantes, wütendes PolitDrama in drei Teilen: Zuerst ein Blick auf die alltagsrassistische, turbokapitalistische Lebenswelt erfolgreicher ehemaliger Ddr-bürger, dann ein unbarmherziger Blick auf die nationalistischen, faschistoiden Verhaltensweisen von Funktionären und Staatssicherheit der frühen DDR, schließlich eine maßund gnadenlose Abrechnung mit dem Deutschland der Gegenwart. Der Text zeugt von großem Hass auf die gegenwärtigen Verhältnisse. Da bleibt auch den Zuschauern nur Verdrängung und Sprachlosigkeit: „Stummes Land“.
Boris Nikitin, „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“, Staatstheater Nürnberg (18./19. Mai) Nikitins Jubiläums-show zum Geburtstag der RTL-SHOW „Big Brother“ist kein reines Re-enactment: Zwar arbeitet die Inszenierung zum Teil mit (überraschend unterhaltsamem) Original-text, doch Orwell-zitate ergänzen und kommentieren das Geschehen. Unter den erbarmungslosen Blicken der Öffentlichkeit betreiben die Bewohner des Containers ihre rigorose Selbstoptimierung. Reality Shows, so behauptet Nikitin, seien Vorläufer der heutigen sozialen Netzwerke, in denen Menschen unterkomplexe Denkmodelle entwickeln und oft krude politische Meinungen äußern. Sie bereiteten dem heutigen Populismus den Boden. Wenn das Bild eines prollig jubelnden Bundeskanzlers Schröder auf dem Tv-screen des Containers erscheint, begreift man: Auch der betreibt Selbstoptimierung mit Hilfe der Fernsehkameras – nicht anders, aber vielleicht skrupelloser als die Bewohner des Containers.
Rainald Goetz, „Reich des Todes“, Deutsches Schauspielhaus Hamburg (nur live am 21. Mai) Nine Eleven ist lange her – ungefähr so lange wie die letzte Uraufführung eines Stückes von Rainald Goetz. Der Anschlag auf das WTC war eine historische Zensur und bot demokratischen Herrschern die Gelegenheit zum Ausbau ihrer Macht. Seither wurde die Demokratie vielerorts durch autokratische Verhaltensweisen unterwandert. Die Figuren der Inszenierung sind scheinbar wiedererkennbar: Bush, Rumsfeld, Condi Rice. Doch Goetz nimmt die amerikanische Politik nur als Folie für ein Nachdenken über die Geschichte und die Verletzlichkeit der Demokratie – und grundiert seinen Text im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Die Inszenierung von Karin Beier liefert sensationelle, polemische, schmerzhafte Bilder und ist zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
Sibylle Berg, „Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden“, Gorki Theater Berlin (23./24. Mai) Da sind sie wieder, die vier Riot Girls, die man schon aus Sebastian Nüblings ersten drei Inszenierungen von Bergs Tetralogie über vier unangepasste Damen auf der Suche nach Selbstverwirklichung kennt. Jetzt liegt eine im Sterben. Doch ihr Angriff auf eine Welt voller marktliberaler, Hayek-gläubiger Kapitalisten hat nach wie vor Wucht. Katja Riemann spricht die großartige Suada einer vom Leben verwöhnten, im Sterben frustrierten Frau, die mit aufrechter sozialistischer Gesinnung ein Leben in Reichtum und Luxus geführt hat. Eine tolle Farce über die Auswüchse und Befindlichkeiten unserer Gesellschaft, kabarettistisch, selbstironisch und voller Lust an Widersprüchen.
Rebekka Kricheldorf, „Der goldene Schwanz“, Staatstheater Kassel (26./27. Mai) Aschenputtel heute: Die Schwestern streben nach Gold und streiten über Lippenstifte, das brave Mädchen selbst heiratet ins Schloss und führt ein selbstbestimmtes Leben als Handwerkerin nebst intellektueller Betätigung als Kämpferin gegen soziale Ungleichheit und globale Ungerechtigkeit. Eine pointensichere Komödie aus dem Geist des Feminismus, intelligent, locker, ohne Verbissenheit.
Ewe Benbenek, „Tragödienbastard“, Schauspielhaus Wien (28./29. Mai) Women's Lib auch hier: Eine junge Frau versucht sich gegen die Gespenster ihrer polnischen Vorfahren zu behaupten: gegen die Großmutter, die dem Geist von Radio Maria verhaftet ist, gegen die Spießer-eltern, die nichts sehnlicher als einen deutschen Pass wünschten. Die junge Frau hat alles erreicht: Pass, Uni-diplom, Job – aber der Anpassungsdruck und der Alltagsrassismus der Gesellschaft lasten immer noch auf ihr. Ein Text am Puls der Zeit, in einer ganz eigenen Sprache geschrieben und mit einer ganz individuellen Handschrift inszeniert.